ein Brandbrief, den eine Wissenschaftler-Gruppe um die Historiker-Koryphäe Heinrich-August Winkler an die SPD-Spitze geschickt hat. Die Gruppe kommt beim Blick auf die Aussagen prominenter Sozialdemokraten zur Ukraine zu ganz anderen Schlüssen. Man betrachte, "mit wachsender Sorge die Positionierung der SPD zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine", heißt es in dem Schreiben an den Parteivorstand. Es liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Neben dem langjährigen SPD-Mitglied Winkler haben es die Historiker Jan Claas Behrends von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, Gabriele Lingelbach und Martina Winkler von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel sowie Dirk Schumann von der Georg-August-Universität in Göttingen unterzeichnet.
Der Brief ist vom 20.03.24. Eine Reaktion soll es nicht geben nur ein Verweis auf ein Video vom Vorsitzenden Klingbeil:
Die SPD und die Kommunikation, das ist eine schwierige Beziehung, praktisch seit Beginn der Ampelkoalition. Parteichef Lars Klingbeil hat sich nun, es erinnert an den Stil eines Robert Habeck, in sein Büro gesetzt und ein Video aufgenommen, um mal die großen Linien zu erklären. 5:46 Minuten lang, bislang haben rund 31 000 Leute das Filmchen bei Instagram gesehen. Klingbeils klare Botschaft: Es gibt keinen neuen Kurs seiner Partei oder gar ein Wackeln bei der Hilfe für die Ukraine, die werde so lange weitergehen, "wie die Ukraine unsere Unterstützung braucht". Und Wladimir Putin müsse aus der Ukraine wieder verschwinden.
Aber man dürfe eben auch Friedensbemühungen nicht verteufeln. "Diplomatie und militärische Stärke sind zwei Seiten einer Medaille", sagt der SPD-Chef. Das sei bei den sozialdemokratischen Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt so gewesen, damals habe die Bundesrepublik sogar 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung und Rüstung ausgegeben. "Aber am Ende waren es auch gute Diplomaten, die die Hand ausgestreckt haben, die Frieden gesucht haben", sagt Klingbeil und betont: "Ich glaube, man muss auch vieles vom Ende her denken."
Kanzler Olaf Scholz habe erklärt, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren und von einer "Zeitenwende" gesprochen, schreiben die Professoren. Aber: "Seine jüngsten Äußerungen und auch die der Parteiführung lassen jedoch die nötige Klarheit und unzweideutige Solidarität vermissen, die daraus eigentlich folgen müsste." Da es hier um eine für Deutschlands und Europas Zukunft zentrale sicherheitspolitische Frage gehe, nämlich um den Umgang mit einem neo-imperialen Russland, "appellieren wir an den Parteivorstand, die notwendige Positionsklärung vorzunehmen".
Wer Winklers Werke kennt, seine Lehren aus der Geschichte, aber zugleich seine stets bedächtige Art, bekommt eine Ahnung, wie sehr es in ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen arbeiten muss. Der 85-Jährige ist einer der bedeutendsten deutschen Historiker der Gegenwart, er hatte schon nach der Annexion der Krim die SPD-Russlandpolitik, das Konzept des Wandels durch Verflechtung etwa in der Energiepolitik scharf kritisiert. Der Titel seines verhallten Weckrufs, der im Dezember 2016 in der SPD-Parteizeitung Vorwärts veröffentlicht wurde: "SPD muss erkennen: Putin will Revision der Grenzen in Europa". Darauf antwortete ihm Rolf Mützenich, in der SPD-Bundestagsfraktion damals für Außenpolitik zuständig, und betonte mit Blick auf Russland: "Eine neue Entspannungspolitik ist heute wichtiger denn je." Wer historisch recht hatte, ist heute bekannt."
Die Kommunikation des Kanzlers, der Partei- und der Fraktionsspitzen in Fragen von Waffenlieferungen wird in der Öffentlichkeit zu Recht scharf kritisiert", heißt es in dem Brief weiter. Argumente und Begründungen seien immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch. "Zudem ist die Abstimmung mit den Verbündeten unzureichend", wird etwa mit Blick auf den Zwist mit Frankreich betont. "Dies sollte klar sein: Putin wird jegliche Uneinigkeit nur als Ermunterung verstehen." Die Historiker erinnern indirekt an das Niederringen der Sowjetunion infolge des Nato-Doppelbeschlusses: Der russische Präsident Wladimir Putin werde überhaupt nur zu ernsthaften Verhandlungen bereit sein, "wenn ihm unzweideutig vermittelt wird, dass der Westen seine erheblich größeren Ressourcen so lange wie nötig einsetzen wird, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern".
Der SPD-Spitze sprechen die Professoren auch ab, die Russlandpolitik der Partei wirklich aufgearbeitet zu haben. Weder die Verstrickungen mit Interessenvertretern Russlands noch die fehlgeleitete Energiepolitik, die Deutschland in eine fatale Abhängigkeit von Moskau geführt haben, seien bisher ernsthaft problematisiert worden. Vielmehr werde die Tradition der von Egon Bahr konzipierten Außenpolitik zu Zeiten Brandts ("Wandel durch Annäherung") "nach wie vor unkritisch und romantisierend als Markenzeichen der SPD hochgehalten". Zudem werfen die Historiker der Kanzlerpartei vor, nicht auf den Rat von Osteuropa-, Völkerrechts- und Militärexperten zu hören: "Der Bundeskanzler und viele SPD-Spitzenpolitiker ignorieren diese wertvollen Wissensressourcen, anstatt diese für ihre Entscheidungsfindung zu nutzen."Russland führe bereits seit Jahren einen hybriden Krieg gegen Europa und wolle die Ukraine vollständig zerstören. "Vor allem aber müssen wir begreifen, dass Putin nur dann ein Interesse daran hat, diesen Krieg zu beenden, wenn ihm die notwendige Stärke entgegengesetzt wird", betonen sie. Diese Erkenntnis scheint sich in der SPD nicht durchgesetzt zu haben. Und dann betonen sie als Fazit: "Wir halten diese Realitätsverweigerung für hochgefährlich und appellieren an Euch, endlich eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine zu benennen, verbunden mit der ebenso klaren Aussage, dass es nicht darum geht, Russland anzugreifen und zu schädigen, sondern die 1991 auch von Russland anerkannte Unabhängigkeit der Ukraine wiederherzustellen".
wenn das die Lösung sein soll, dann kann die Ukraine auch gleich alles hinwerfen und sich Putin unterwerfen:
Zur scharfen Kritik der prominenten Historiker passt, dass nun der bislang offensivste Ukraine-Unterstützer in der SPD-Bundestagsfraktion, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Michael Roth, seinen Abschied nach 26 Jahren im Bundestag angekündigt hat. Das Klima in Fraktionssitzungen vergleicht Roth mit einem Kühlschrank, spricht von einer völligen Unterordnung unter den Kurs von Kanzler Olaf Scholz - allerdings hat er oft auch über die Medien kommuniziert, statt intern für seine Positionen zu werben und Mehrheiten zu suchen. Er und wenige andere in der Fraktion wären auch für eine Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine. Diese Gruppe fürchtet ein historisches Versagen, während gerade der linke Parteiflügel vor einer Eskalation warnt und wieder auf mehr diplomatische Lösungen setzt, auf Druck auf Russland, vor allem durch China.
Klingbeil macht deutlich, man habe die Fehler der Russlandpolitik sehr wohl aufgearbeitet, es gehe nun darum, Sicherheit vor statt mit Russland zu organisieren. Er würde im Land aber in diesen Tagen auch viele treffen, die fragten: "Könnt Ihr verhindern, dass dieser Krieg auf Deutschland überschwappt?". Und so setzen sie in der SPD große Hoffnungen auf ein Einwirken Chinas auf Russland, auch der Kanzler sieht hier den Schlüssel. In dieser Lesart hat - bei einem Besuch von Scholz in Peking - der chinesische Machthaber Xi Jinping mit einer öffentlichen Aufforderung an Moskau, keine Nuklearwaffen einzusetzen, diese Eskalation bereits vorerst abgewendet. In der SPD heißt es nun, der Kanzler plane, in Kürze erneut nach China zu reisen.
https://www.sueddeutsche.de/politik/spd ... -1.6492383
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
erpie