NZZ hat geschrieben:Auch bei den Parlamentswahlen am 1. November werden wieder rechte Parteien in Israel dominieren. Dafür verantwortlich sind vor allem die jungen Wähler, die deutlich weniger friedensbereit und gesellschaftlich liberal sind als ihre Eltern und Grosseltern.
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Weiter rechts als die eigenen Eltern
Viele junge jüdische Israeli haben wie Herschel die Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern aufgegeben. Immer mehr von ihnen stimmen deshalb für Rechtsparteien oder sogar für offen rassistische Gruppierungen wie Otzma Yehudit (Jüdische Macht) von Itamar Ben Gvir, der alle Palästinenser aus Israel und den besetzten Gebieten vertreiben möchte und dessen Anhänger bei aufgeheizten Wahlveranstaltungen «Tod den Arabern» schreien.
In Israel ist die Haltung gegenüber dem Konflikt mit den Palästinensern bis heute entscheidend dafür, wie man sich politisch verortet. Wer sich mit der Besetzung des Westjordanlandes schwertut und eine Zweistaatenlösung befürwortet, stimmt links. Wer die Siedlungspolitik oder gar eine Annexion der besetzten Gebiete gutheisst, stimmt rechts.
Laut einer neuen Studie des Israel Democracy Institute bezeichnen sich heute über 70 Prozent der jüdischen Israeli zwischen 18 und 24 Jahren als rechts. Über alle Altersgruppen hinweg verteilt sind es knapp 60 Prozent. Nicht nur in Bezug auf den Konflikt, auch was gesellschaftspolitische Fragen angeht wie etwa die Rechte von LGBT, sind die Jungen konservativer eingestellt als ihre Eltern und Grosseltern. Das ist ungewöhnlich. In den meisten europäischen Ländern vertritt die junge Generation progressivere Positionen und rückt im Laufe der Jahre dann in die Mitte oder nach rechts.
Aufgewachsen mit der zweiten Intifada
Dass es in Israel anders ist, hat verschiedene Gründe. Zum einen hat die jüngste Wählergruppe den Friedensprozess in den 1990er Jahren nicht miterlebt. Die Osloer Abkommen, deren Basis die Zweistaatenlösung war, scheiterten vor ihrer Zeit. Diese Israeli haben nicht gesehen, wie Yitzhak Rabin und Yasir Arafat in Oslo miteinander verhandelten, Hände schüttelten und Verträge unterzeichneten. Als Rabin 1995 während einer Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem religiösen Rechtsextremen ermordet wurde, waren sie noch nicht auf der Welt.
Die Jungen der Generation Z wurden geboren in der Zeit der zweiten Intifada (2000 bis 2005), während deren Hunderte von Israeli bei Terroranschlägen ums Leben kamen. Sie haben erlebt, wie die Hamas Israel nach dem Abzug aus Gaza 2005 mit Raketen beschoss, und lehnen weitere territoriale Konzessionen deshalb ab. Die Jungen trauen den Palästinensern nicht. Die verhältnismässige Ruhe im letzten Jahrzehnt hat daran nichts geändert.
Das Misstrauen wird verstärkt dadurch, dass es kaum mehr Kontakte zwischen jungen jüdischen Israeli und Palästinensern gibt. Israel und das Westjordanland sind heute durch eine Mauer getrennt. Junge Israeli übertreten die grüne Linie ins besetzte Westjordanland kaum jemals, wenn sie nicht selbst in einer Siedlung leben. Palästinenser aus den besetzten Gebieten kennen sie keine, und selbst mit den in Israel lebenden Arabern gibt es im Alltag wenig Interaktion.
Was Israel von anderen entwickelten Demokratien unterscheidet, ist der Einfluss der Religion. Der Anteil der Ultraorthodoxen, der modernen Orthodoxen und der religiösen Nationalisten nimmt hier kontinuierlich zu, weil die Geburtenraten in diesen Kreisen deutlich höher sind als bei säkularen Israeli. Und die Religiosität einer Person ist laut Studien der beste Indikator dafür, wo diese politisch anzusiedeln ist.
Je religiöser jemand ist, desto eher wählt er rechts. «Der Hauptgrund für den Rechtsruck der Gesellschaft war in den letzten zwei Jahrzehnten die zunehmende Religiosität der Israeli», sagt die Soziologin Tamar Hermann vom Israel Democracy Institute. «Es handelt sich deshalb auch nicht um vorübergehende Schwankungen, sondern um längerfristige Verschiebungen. Ich sehe nicht, wie sich die Linke in Israel unter solchen Umständen wieder erholen kann.»
Zunehmende Polarisierung
Die jüngste Wählergruppe ist in einem Staat aufgewachsen, in dem bis auf wenige Jahre immer Netanyahu und dessen rechter Likud an der Macht waren. Unter diesem gewannen religiöse Parteien starken Einfluss, und extreme Rechtsaussenpolitiker wie Ben Gvir wurden salonfähig. Mit seiner jahrzehntelangen Verteufelung von Linken als Araberfreunden und Staatsfeinden hat Netanyahu entscheidend zum Rechtsrutsch des Landes beigetragen.
Der öffentliche Diskurs hat sich verschärft, die Medienlandschaft hat sich verändert. Bis vor zwanzig Jahren waren die grossen Medienhäuser noch dominiert von säkularen, eher linken Figuren. Heute sind die populärsten Zeitungen und Fernsehkanäle religiös und nationalistisch. «Links» ist in Israel zu einem Schimpfwort geworden, und Parteien wie Yesh Atid von Yair Lapid setzen alles daran, als Liberale oder als Zentrumsparteien wahrgenommen zu werden, auch wenn sie im Prinzip linke Positionen vertreten.
Die Jungen wissen wenig über den Konflikt
Hinzu kommt, dass an den Schulen nur sehr selektiv über den Konflikt informiert wird. Herschel hat im Geschichtsunterricht viel über die Gründung Israels 1948 und den erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg gegen Ägypten, Saudiarabien, Jordanien, Libanon, den Irak und Syrien gelernt. Von der Nakba, wie die Palästinenser die Vertreibung von etwa 700 000 nichtjüdischen Arabern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina nennen, hat sie nie etwas gehört.
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Die Israeli haben sich mit dem Konflikt arrangiert
Dass die jungen Israeli heute kaum mehr etwas über die Hintergründe des Konflikts wissen, hat laut der Soziologin Hermann auch damit zu tun, dass der Konflikt im Alltag der meisten Israeli nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Man habe sich mit dem Status quo arrangiert, sagt sie im Gespräch. Zwar gebe es immer wieder Messerattacken auf jüdische Zivilisten oder Raketenangriffe aus Gaza. Für israelische Verhältnisse sei die Sicherheitslage im letzten Jahrzehnt aber eher entspannt gewesen.
Das unabhängige Israel Democracy Institute publiziert regelmässig Studien über die politische Befindlichkeit der Israeli. Dabei stelle man eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber dem Konflikt fest, sagt Hermann. In den 1990er und 2000er Jahren hätten sich 18- bis 25-Jährige noch politisch engagiert und über Themen wie die Siedlungsfrage oder die Besetzung des Westjordanlands gestritten. Heute hielten sie das Problem für unlösbar und hätten resigniert.
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Die einst dominierende Arbeiterpartei kämpft ums Überleben
Die israelische Arbeiterpartei, die den Staat gegründet und über Jahrzehnte hinweg dominiert hat, ist in den letzten zwei Jahrzehnten tatsächlich in der Bedeutungslosigkeit versunken. Momentan verfügen Labor und seine Splitterpartei Meretz in der Knesset noch über 13 der 120 Sitze. Und bei den Wahlen am Dienstag drohen die Nachfolger von David Ben Gurion, Golda Meir und Yitzhak Rabin an der Sperrklausel von 3,25 Prozent zu scheitern und ganz aus dem Parlament zu verschwinden.
Der langsame Niedergang der Linken begann um das Jahr 2000 mit der zweiten Intifada, als die Palästinenser mit Selbstmordanschlägen den Friedensprozess der Labor-Regierung diskreditierten. Seither ist es der Arbeiterpartei nicht gelungen, den Friedensprozess wiederzubeleben. Die Zweistaatenlösung wird mit jedem Jahr unrealistischer, doch neue Visionen für einen Frieden gibt es keine. Und so übernehmen immer mehr Israeli das Narrativ von Netanyahu, dass Israel keinen Partner habe, um über Frieden zu verhandeln.
Kwelle & mehr: https://www.nzz.ch/international/israel ... obal-de-DE