Wer ist «die Antifa»?
Wer alle militanten Antifaschisten als Terroristen betrachtet, irrt – wer sie nur an ihren hehren Parolen misst, jedoch auch.
Rechte Politiker übertreffen sich mit Verbotsforderungen, Linke ergeben sich in Verharmlosungen: Die Frage, wie man mit antifaschistischen Gruppen umgehen soll, sorgt in Deutschland und in der Schweiz für gehässige Diskussionen. Eine Annäherung.
Berlin, Alexanderplatz. Inmitten der friedlichen Masse rauscht eine riesige Fahne durch die Luft, schwarz auf goldenem Hintergrund prangt eine geballte Faust. Das Einzige, was an der Handvoll schwarz vermummter junger Menschen auffällt, ist die zwischen ihnen aufgespannte Flagge: «Antifascismo militante» ist dort zu lesen. Sie wirken nicht sonderlich martialisch und furchteinflössend, zu Krawallen wird es erst später kommen. Zehntausende demonstrierten am vergangenen Samstag gegen Rassismus und Polizeigewalt.
Seit der amerikanische Präsident Donald Trump «die Antifa» im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Ausschreitungen als Terrororganisation verbieten will, wird überall in der westlichen Welt heftig diskutiert, was es mit diesem Antifaschismus beziehungsweise mit dem Kürzel «Antifa» auf sich habe, das viele Gruppen und Aktivisten für sich pachten. Sicher ist: Die «Antifa» gibt es nicht. Es handelt sich derzeit vielmehr um eine heterogene Bewegung, die mal auf eine mehr, mal auf eine minder radikale Weise auftritt.
Vereinfacht gesagt gibt es im Umgang mit dieser Bewegung zwei Extrempositionen: Während sich linke Politiker wie die deutsche SPD-Vorsitzende Saskia Esken spontan solidarisieren, fordert die politische Rechte Verbote à la Trump. In der Schweiz hat der SVP-Nationalrat Andreas Glarner ein Postulat eingereicht, um – Zitat – «die Antifa» und den «linksextremen Terror» verbieten zu lassen, in Deutschland sind von der AfD ähnliche Töne zu hören.
Die Grenzen zum Extremismus sind fliessend
Gemeinsam ist diesen Sichtweisen, dass sie dem Phänomen nicht gerecht werden. Historisch richtete sich der Antifaschismus gegen rechtsextreme Bewegungen und Regime, vom nationalsozialistischen Deutschland über die italienischen Faschisten bis zur Pinochet-Diktatur in Chile.
Da der Begriff jedoch bereits in den 1930er Jahren von antidemokratischen Kräften vereinnahmt worden ist – unter anderem von den Anhängern des sowjetischen Diktators Josef Stalin –, wird er bis heute von der linksextremen Szene missbraucht, um Gewalt gegen «das System», den Kapitalismus und auch gegen Menschen zu rechtfertigen.
Auf den Antifaschismus berufen sich jedoch auch zahlreiche Gruppen und Bürgerinitiativen, die rechtsextreme Netzwerke aufdecken, Rassisten in der Polizei oder in der Armee outen und Menschen unterstützen, die von Neonazis bedroht werden. Die Grenzen zum politischen Extremismus sind jedoch auch hier oft fliessend.
Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages formulierte es vor zwei Jahren so: «Bei der sogenannten Antifa handelt es sich nach verbreitetem Verständnis nicht um eine bestimmte, klar umgrenzte Organisation oder Vereinigung, sondern um den Oberbegriff für verschiedene, im Regelfall eher locker strukturierte, ephemere autonome Strömungen der linken bis linksextremen Szene.»
Dutzende Antifa-Gruppen sind extremistisch
In Deutschland reicht die Palette der antidemokratischen oder zumindest stark antidemokratisch beeinflussten Gruppen von anarchistisch orientierten Autonomen über Maoisten und Trotzkisten bis zu alten Stalinisten, orthodoxen Marxisten und DDR-Nostalgikern, die sich etwa in der Deutschen Kommunistischen Partei oder der «Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten» engagieren. Letztere ist jahrelang von einem ehemaligen Stasi-Spitzel geführt worden.
Das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz hält auf Anfrage fest, dass nicht alle Personen und Gruppen, die sich als antifaschistisch bezeichnen, «automatisch ein Fall für den Verfassungsschutz» seien. Allerdings machte «Die Welt» diese Woche publik, dass die deutschen Verfassungsschützer in Bund und Ländern derzeit mindestens 47 Antifa-Gruppen als extremistisch einstufen.
Die gemeinsame Klammer dieser untereinander oft zerstrittenen Systemgegner ist der Antifaschismus. Und da sie Faschisten für ein Produkt des verhassten Kapitalismus halten, müssen möglichst viele von ihnen kreiert werden. Entsprechend grosszügig wird der Begriff Faschist ausgelegt, und genau hier liegt ein Hauptproblem vieler antifaschistischer Gruppen.
«Ob das wirklich Faschisten sind, ist ihnen egal»
Der Berliner Politikwissenschafter Klaus Schroeder drückt es so aus: «Ich halte nichts von Selbstjustiz, aber genau darum geht es oft bei diesen Leuten. Weil der Staat angeblich nichts tut, nehmen sie die Sache selber in die Hand, um alle möglichen Feinde zu bestrafen. Ob das wirklich Faschisten sind, ist ihnen egal.»
Die grosszügige Interpretation des Begriffs Faschismus hat gerade in Deutschland eine lange Tradition. Die Kommunistische Partei Deutschlands, die 1932 die erste «Antifaschistische Aktion» ins Leben rief, verleumdete ihre sozialdemokratischen Konkurrenten als «Sozialfaschisten», und wer den Kommunisten im Weg stand, war sowieso ein Faschist.
Diese stalinistische Methode lebte nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, unter anderem in der DDR, wo ehemalige Widerstandskämpfer im Namen des Antifaschismus Mauern errichteten und demokratische Gegner verfolgen liessen. Für die Radikalinski-Fraktion der 68er Bewegung in Westdeutschland war aufgrund der Formel «Hinter dem Faschismus steht das Kapital» ebenfalls alles Mögliche faschistisch, von der BRD über Israel bis zur bürgerlichen Kleinfamilie.
Derlei simple Faschismuskonzepte haben bis heute überlebt, zum Teil auch bei den Grünen und in der Partei Die Linke, die Kritik an ihrem historisch kontaminierten Antifaschismusbegriff gerne als «Hetze gegen alles, was links ist» abtut.
Vom steten Versuch, Gewalt zu legitimieren
Dabei sind die pauschalen Faschismusvorwürfe oft von kaum verhohlenen Gewaltaufrufen begleitet, besonders jene aus dem autonomen Milieu. So behaupten deutsche Antifa-Gruppen unter anderem, die Werteunion, ein Verein konservativer und wirtschaftsliberaler Mitglieder von CDU und CSU, habe beim Mord an Walter Lübcke «mitgeschossen»; ihre Exponenten sollten deshalb «besucht», also drangsaliert werden.
Der AfD, ihren Mitgliedern, Wählern und Sympathisanten soll das Leben «so unangenehm und teuer wie möglich» gemacht werden, wie es in einem Aufruf der Internetplattform Indymedia heisst. Ganz egal, ob sie dem völkisch-radikalen Teil der Partei angehören oder nicht.
Weil die «Faschisten» angeblich selber gesellschaftliche oder verbale Gewalt ausüben, ist «Gegengewalt» zumindest aus Sicht der Autonomen legitim. Deshalb gehören laut Verfassungsschutz Sachbeschädigungen, Brandstiftungen und teilweise auch Körperverletzungen zu den «szenetypischen Straftaten». Konkrete Statistiken zu Straftaten im Kontext mit Antifaschismus gibt es nicht. Der Verfassungsschutzbericht des Jahres 2018 zählte 4622 linksextremistisch motivierte Straftaten, 1010 davon waren Gewalttaten. Ein Jahr zuvor waren es gar 1967.
In Stuttgart sind erst kürzlich drei rechte Gewerkschafter angegriffen und zum Teil schwer verletzt worden. Auf der Internetplattform Indymedia bekannten sich dazu «einige Antifas». In ihrer Stellungnahme heisst es unter anderem: Die Faschisten «sollen mit Schmerzen, Stress und Sachschaden rechnen und dadurch möglichst isoliert, gehemmt, desorganisiert und abgeschreckt werden».
Grüne und Linke verharmlosen das Problem
Selbst Sozialdemokraten sind vor Angriffen nicht sicher. Der Berliner Abgeordnete Tom Schreiber etwa ist wiederholt von Autonomen attackiert worden, weil er deren Angriffe auf den Rechtsstaat nicht hinnehmen will. «Pass bloss auf, Tom», beschied ihm der Absender «Antifa e. V.», und: «Tommy, wir wissen, wo dein Auto steht.» Schreiber ist auch schon auf offener Strasse bedroht worden, im Internet wird er mit Hass verfolgt und verleumdet. «Einmal», so berichtet er, «haben sie sogar geschrieben, dass ich Selbstmord begangen hätte.»
Sorgen bereitet Schreiber, dass die Täter mit ihren antirassistischen und antifaschistischen Parolen durchaus fähig sind, bei friedlichen Demonstrationen «anzudocken» und Bewegungen zu unterwandern. Obendrein stelle er immer wieder fest, dass die Grünen und die Partei Die Linke das Problem überhaupt nicht ernst nähmen: «Während die AfD den Rechtsextremismus einfach ausblendet, ignorieren sie linke Gewalt, oder sie behaupten, diese richte sich nur gegen Sachen. Dabei geht es diesen Leuten um körperliche Auseinandersetzung und den Aufbau von rechtsfreien Räumen.»
Diese Debatte entbrannte letztmals Ende Mai, als der jüngste Bericht des Berliner Verfassungsschutzes veröffentlicht wurde. Darin stufte die Behörde die Anti-Kohle-Initiative «Ende Gelände» neben acht anderen Gruppierungen als linksextremistisch ein. Diese stelle sich zwar als Klimaschutzakteur dar, heisst es in dem Bericht, dabei werde aber verschleiert, dass die tatsächlichen Ziele weit darüber hinausreichten. Gewaltanwendung etwa würde mindestens billigend in Kauf genommen. Grüne und Linke reagierten empört und forderten just die Abschaffung des Verfassungsschutzes.
Die SPD hielt zwar dagegen, doch ihre Jugendorganisation, die Juso, hielt das nicht davon ab, sich mit der Grünen Jugend und der Linken-Jugendorganisation Solid ebenfalls gegen den Verfassungsschutz in die Schlacht zu werfen. Tenor: Wer rechten Terror und den Einsatz für Klimagerechtigkeit als zwei «Extreme» einer sonst vorbildlich gesinnten Mitte gleichsetze, könne nicht in der Lage sein, faschistische Tendenzen angemessen zu bekämpfen.
Dass ein Teil der Linken nicht bereit ist, über antidemokratischen, gewalttätigen Antifaschismus zu sprechen, hat nicht nur ideologische Gründe. Zwischen diesen Parteien und linksextremen Antifaschisten gibt es immer wieder Bündnisse «gegen rechts». Auch der Politologe Klaus Schroeder hält diese Nähe für gefährlich; obendrein wüssten die deutschen Bundesländer und der Bund oft nicht genau, wen sie in ihrem «Kampf gegen rechts» genau förderten. «Das heisst aber nicht, dass zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextreme unter Generalverdacht gestellt werden soll.»
Buchhaltertypen und Freaks gegen Rechtsextremisten
Tatsächlich leisten einige antifaschistische Gruppen und Archive wichtige Aufklärungs- und Präventionsarbeit; das gilt auch für jene, die ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie haben. Der Schweizer Journalist und grüne Politiker Hans Stutz hat seit mehr als zwanzig Jahren gelegentlich Kontakt zu Antifa-Gruppen, die rechtsextreme Netzwerke aufdecken oder Neonazis in staatlichen Institutionen und Parteien outen. «Die Vorstellung rechter Scharfmacher, dass Antifa-Aktivisten nur schwarzgekleidete Finsterlinge sind, ist falsch», sagt er, «diese Leute haben oft ganz verschiedene Motive, da engagieren sich auch Computerfreaks und Buchhaltertypen.»
Natürlich teile er deren zuweilen weite Ausdehnung des Faschismusbegriffs nicht. Aber da Polizei und Nachrichtendienst – zumindest in der Schweiz – nur noch summarisch über gewaltbereite, bewaffnete Rechtsextremisten berichteten, sei die Aufklärungsarbeit umso wichtiger.
So hätten Antifa-Aktivisten kürzlich ein internationales Netzwerk von Rechtsextremen aufgedeckt, das auch in der schweizerischen und der deutschen Kampfsportszene agiert. «Möglich war das wegen der Arbeit von Antifa-Gruppen, die für dieses Projekt zusammenarbeiteten», sagt Stutz. Auch die Hintergründe des berüchtigten Neonazi-Konzerts in Unterwasser, wo rund 5000 Rechtsextreme aus der Schweiz, Deutschland und anderen Ländern «abhitlerten», kamen nur dank Antifa-Recherchen in die Medien. Gleiches gilt für Enthüllungen über Rechtsextremisten.
Gerade in ländlichen Gebieten der Schweiz oder in Ostdeutschland erfüllen Antifa-Aktivisten laut Stutz noch eine andere wichtige Funktion: Sie unterstützen Jugendliche, und sie markieren Präsenz, wenn Rechtsextremisten aufmarschieren. So gab es in Schwyz in der Zentralschweiz eine grosse Gegendemonstration, nachdem zwölf Unbekannte in Ku-Klux-Klan-Klamotten an der Fasnacht aufmarschiert waren. Dass bei der «bunten» Gegendemo zahlreiche schwarzgekleidete, urbane Systemhasser mitmarschierten, war natürlich auch kein Zufall. Antifaschismus ist und bleibt ein ambivalentes Phänomen, das differenziert betrachtet werden muss.