Atlan hat geschrieben: ↑Montag 9. September 2019, 12:59
Waren deine Eltern da noch nicht geboren oder kleine Kinder? Mein Vater war seit 39 mit 18 Jahren im Krieg...
Meine Eltern waren 45 noch Kinder. Meine Großväter waren beide Soldaten. Einer hat das Kriegsende überlebt. Von dem, was ich in Erfahrung bringen konnte, war keiner in der SS oder der Partei. Und nach den Erzählungen meines einen Onkels war dessen Vater gegenüber dem NS-Regime zwar skeptisch eingestellt, aber auch kein Widerstandskämpfer. Vom anderen Opa weiß ich weniger. Vermutlich eher konservativer Knochen (von wem ich das wohl habe, grübel?), so in Richtung Zentrumspartei. Über die Zeit hat er mit mir nicht gesprochen. So wie 99 % der anderen auch. Und ich war noch zu jung, um erkennen zu können, dass ich hätte nachfragen müssen.
Mein Onkel, 1945 ebenfalls Kind, hat später noch mit 80 an der VHS Kurse über die NS-Gefahr veranstaltet und dafür extra ''Mein Kampf'' komplett durchgelesen, um auch Quellenbelege liefern zu können. Vor so etwas habe ich z.B. Hochachtung und auf den bin ich stolz. Nationalität/Hamburger? Drauf geschissen. Ich bin gern Deutscher/Hamburger. Nicht mehr, nicht weniger.
Atlan hat geschrieben: ↑Montag 9. September 2019, 12:59
Und ja, ohne diese totale Niederlage hätten wir heute eine andere Welt, nicht unbedingt eine bessere.
Ohne diese NIederlage hätten wir eine deutlich schlechtere Welt. Ich bin den Engländern dankbar, dass sie in der ersten Phase Stand gehalten und später entscheidende Beiträge zur deutschen Niederlage geleistet haben. Ich bin den Russen dankbar - auch wenn Stalin ein Diktator, Besatzer und Massenmörder am eigenen Volk war, dass sie bei Stalingrad und Moskau Stand gehalten und die deutsche Armee aus Osteuropa vertrieben haben. Ich bin den Amerikanern dankbar, dass sie doch noch in den Krieg gegen Deutschland eingetreten sind und mit ihrer militärischen und wirtschaftlichen Stärke Nazi-Deutschland endgültig in die Knie gezwungen haben. Und ich bin ihnen dankbar, dass ich durch sie in Freiheit und wirtschaftlichem Wohlstand aufwachsen konnte. Wer weiß, was aus mir sonst geworden wäre? Vermutlich ein Mitläufer. Dass werden die meisten in Diktaturen. Vielleicht aber auch schlimmer.
Atlan hat geschrieben: ↑Montag 9. September 2019, 12:59
Jedenfalls wurde dort am Standort des Lagers ein Mahnmal errichtet. Die Frage wurde heftig diskutiert: Muss das denn jetzt noch sein, nach so vielen Jahren?
Eben! Das war und ist doch immer so. Nach 45 wollte man in erster Linie überleben und satt werden. In den 50ern in Frieden gelassen werden. In den 60ern die Früchte der eigenen harten Arbeit genießen. In den 70er war doch endlich mal genug. In den 80ern sowieso. In den 90ern standen Wiedervereinigung und Neupositionierung in Europa an. Seitdem sind wir ein Volk, ein Staat, aber oft komplexbeladen und inzwischen auch wieder stark gespalten.
Der Witz ist: Deutschland hat sich geändert. Stark sogar. Und für mich eindeutig zum besseren. Nur ging das nicht von uns aus, weil wir die Geschichte so toll aufgearbeitet haben. Sondern weil ein großer Teil Deutschlands das Glück hatte nach dem 2. Weltkrieg auf der richtigen wirtschaftlichen Seite zu sein und weil später der westliche Wohlstand ausreichte einen deutlich ärmeren Osten wirtschaftlich zu integrieren. Mit der Zeit kam auch eigenes Zutun dazu.
Des Öfteren werden Deutsche in der Welt inzwischen auch viel positiver wahrgenommen als es sich viele Deutsche ausmalen. Selbst in Israel. Da kann man doch nicht davon sprechen, dass andere uns Schuld aus der Vergangenheit in die Gegenwart nachtragen. Da mag es vereinzelt welche geben. In der deutlichen Mehrheit machen das aber Deutsche selbst. Und das nicht, weil jemand sagt, kein Schlusstrich, sondern weil man zwanghaft auf positive Eigenschaften und Errungenschaften verweist, ohne dass deren Aufzählung jemand anderes fordert. Als wenn man Millionen Holocaust-Opfer mit 1.000 Jahren Geistesgeschichte aufwiegen könne. Wer sich zu Recht auf Goethe und Humboldt beruft bzw. sich in ihnen sonnt, muss selbstverständlich auch Nazi-Deutschland und seine Gräultaten zu ''seiner'' Vita zählen. Zumal Goethe und Humboldt deutlich weiter weg liegen als der Holocaust.
Atlan hat geschrieben: ↑Montag 9. September 2019, 12:59
Wer von Erbschuld spricht? Ist vielleicht zu hart ausgedrückt, aber von @jeck3108 wurde geschrieben, dass es keinen Schlussstrich geben dürfte. Was ist das den anderes als die Schuld Generation für Generation weiterzugeben?
Da liegen jeck und ich vermutlich nicht so weit auseinander. Ich kann keinen Schlussstrich unter den Holocaust fordern. Ich fordere auch keinen unter Goethe oder Einstein. Die Nazi-Zeit gehört zu Deutschland. In 200 Jahren, sofern es Deutschland und Menschheit dann noch gibt, ist der Abstand ein anderer. Dann wird 33-45 tatsächlich nur noch ein kleiner Teil deutscher Geschichte sein. Aber heute leben noch Menschen, die den Holocaust mit viel Glück überlebt haben und deren Kinder. Ebenso Menschen und deren Kinder von Ländern, die D ab 39 überfallen hat. Da kann ich nicht sagen: Knapp 70 Jahre vergangen, lasst mal alles auf Null stellen. Nein, Schlussstrich geht nicht. Das meint aber nicht individuelle Schuld der heutigen Generation an der NS-Zeit, noch in Sack und Asche gehen. Einfach nur achtsam mit unserer Geschichte umgehen und sich nicht immer selbst als Mittelpunkt der Welt betrachten.
Atlan hat geschrieben: ↑Montag 9. September 2019, 12:59
Zu welchem Staat gehörte eigentlich das erste Schiff mit Sklaven aus Afrika? Fühlt sich der Staat dafür auch heute noch verantwortlich? Für das viele Leid, dass daraus entstanden ist?
Ist nur ein Beispiel.
Das ist doch gänzlich nachrangig. Fast immer viel weiter weg und vor allem jeweils ein ganz anderes Thema. Ob nun Sklavenhandel, Kreuzzüge, niederländische/französische/englische und andere Kolonialpolitiken, Mayas/Inkas, die Okupationen der Japaner, Dschinghis-Khan, das chinesische Himmelsreich oder Mohammed. Die USA haben den z.B. den Sklavenhandel innerhalb ihres Landes selbst besiegt. Wir Deutschen brauchten für die Nazis die Hilfe anderer Staaten.
Selbst das, was näher ist und vielleicht sogar als Genozid im Bevölkerungsverhältnis (!) noch schlimmer ausfällt, wie Ruanda, hebt die Singularität von Nazi-Deutschland und Holocaust nicht auf. Und schon gar nicht das Gedenken daran.
Dass das Deutschland von heute, trotz AfD, weit entfernt von Nazi-Deutschland und auch weit entfernt von der Gesinnung der 50er und frühen 60er Jahre ist, liegt neben dem Wohlstand vermutlich auch an einer typisch deutschen (konservativen) Eigenschaft: Wenn man etwas als für das eigene Leben als hilfreich erkennt, ist man bereit sich zu ändern. Lockerer zu werden, auf blinde Flecken zu schauen und so etwas wie eine WM 2006 zu veranstalten. Wenn der Deutsche will, kann er. Die Frage ist, ob er will? Besser gesagt, wieviele wollen? Noch sehe ich eine sehr deutliche Mehrheit bei Pro.
Von uns die Arbeit, von Gott den Segen.