NZZ hat geschrieben:Neapel war bekannt für Verbrechen und Abfallberge. Heute ist die süditalienische Stadt selbstbewusst. Das hat auch mit ihrer Fussballmannschaft zu tun.
Maurizio De Giovanni hat erreicht, wovon viele Schriftsteller nur träumen. Sein neuester Krimi führt die Bestsellerlisten in Italien an, der wichtigste staatliche Fernsehkanal, Rai 1, zeigt gleichzeitig vier TV-Serien, die auf seinen Büchern basieren, und überall im Land werden seine Theaterstücke aufgeführt. In Neapel ist er heute die populärste literarische Stimme, und auch international wächst das Interesse an dem neapolitanischen Geschichtenerzähler. Der 65-Jährige schreibt über alles, was seine Heimatstadt bewegt – über die sozialen Probleme, politische Ränkespiele, die Mafia, über das grosse historische und kulturelle Erbe und natürlich auch über den Fussball. Der Schriftsteller ist in den lokalen Medien so allgegenwärtig, dass er hier auch neckisch «der weltliche Papst Neapels» genannt wird.
Das alles interessiert Maurizio De Giovanni momentan jedoch kaum. Seine Gedanken drehen sich allein um die Fussballmeisterschaft. Sein Verein, die Società Sportiva Calcio Napoli, dürfte dieses Jahr den Meistertitel, den «Scudetto», gewinnen. Zum dritten Mal in der Geschichte des italienischen Fussballs und zum ersten Mal seit 33 Jahren. «Ein solches Wunder ist das Schönste, was einem im Leben passieren kann», sagt der Dramatiker.
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Keine andere Stadt Europas ist so verwoben mit dem Fussball wie Neapel. Er prägt das Leben der Menschen hier und bestimmt über ihr Selbstwertgefühl. Jahrzehntelang galt Neapel als Problemstadt und war vor allem für seine hohe Jugendarbeitslosigkeit und seine hohe Kriminalitätsrate bekannt. Der einzige Lichtblick war der Fussball. Dank ihm konnten die Neapolitanerinnen und Neapolitaner am Sonntag im Stadion kurz die Härte des Alltags vergessen und von einem Sieg träumen. Doch dieser stellte sich nur selten ein. Viel häufiger litten die Neapolitaner unter den Norditalienern, die wie in allen Lebensbereichen auch den Fussball dominierten. Doch dieses Jahr ist alles anders.
Die SSC Napoli hat sich freigespielt und mit ihr die Stadt am Fusse des Vesuvs. Sie ist selbstbewusst geworden. Ihre Wirtschaft wächst schneller als jene in anderen Regionen, ihr Bürgermeister Gaetano Manfredi ist für seine weitsichtige Politik bekannt, und ihre Schriftsteller und Regisseure gehören zu den angesagtesten im Land.
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Am heutigen Länderspiel interessiert Maurizio De Giovanni nur, ob Kvara in Form ist. Würde Napoli heute Abend spielen, hätte er uns nie zum Gespräch empfangen. Er verpasst kein einziges Spiel seiner Mannschaft, auch nicht für viel wichtigere Dinge als ein Interview. «Ich bin in erster Linie ein Tifoso und dann erst ein Schriftsteller», sagt er. Fan sei man von der Geburt bis zum Tode und damit länger als alles andere im Leben.
In jeder anderen europäischen Stadt würde man eine solche Aussage für verrückt oder für masslos übertrieben halten, nicht so in Neapel. Die Spiele der SSC Napoli gehören für die Menschen hier zum Wochenende wie einst der Besuch in der Kirche. Und alle haben für die Spieltage ihre glückbringenden Rituale.
Ein älterer Lehrer sagt, er trage an den Spieltagen seit Jahren das gleiche Hemd, auch wenn es ihm kaum mehr passe. Der Chef des lokalen Industrieverbandes fährt mit immer derselben Gruppe von Freunden ins Stadion, davor essen sie jedes Mal im selben Restaurant, am selben Tisch, jeder auf demselben Platz, um ja keine Niederlage heraufzubeschwören. Eine junge Musikerin des Opernensembles schaut sich die Spiele immer zusammen mit der Grossfamilie bei der Nonna an. Keiner darf dabei fehlen, und die Grossmutter backt immer denselben Kuchen. Während der Partie muss sie in der Küche bleiben und den Spielverlauf übers Radio verfolgen, wie sie das bei einem Kantersieg von Napoli über Juventus vor zehn Jahren zum ersten Mal getan hat.
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Neapel gehörte jahrzehntelang in allen Bereichen zu den Schlusslichtern in Italien, entsprechend tief sitzt der Minderwertigkeitskomplex. Doch nun führt der Fussballklub der Stadt vor Augen, wie sie mit Organisation mehr aus ihrer Leidenschaft herausholen kann. Der Mann, der die SSC Napoli seit knapp zwanzig Jahren führt, hat ein Erfolgsmodell geschaffen. Es beruht auf dem einfachen Prinzip, das Unternehmen mit finanzieller Vorsicht und einer langfristigen Strategie zu führen. Also auf eher unneapolitanische Art und Weise: mit mehr Kopf als Herz, mehr Planung statt Chaos, mehr Nüchternheit statt Emotionen. Das «Modell De Laurentiis» wird von den anderen italienischen Klubs als Vorbild gesehen, es strahlt aber weit über den Sport hinaus. Auch Unternehmer und Politiker sehen es heute als Beispiel, wie die südliche Hafenstadt vorwärtsgebracht werden kann.
Als der heute 73-jährige Aurelio De Laurentiis die SSC Napoli 2004 übernahm, befand sich der Klub am Tiefpunkt. Hoch verschuldet hatte dieser Konkurs anmelden und in der Serie C neu anfangen müssen. Unter dem Filmproduzenten und gebürtigen Römer stieg der Verein innerhalb von zwei Saisons in die Serie B auf, im Folgejahr war er zurück in der Serie A. Und auch dort war er erfolgreich. In den letzten zehn Jahren beendete Napoli die Meisterschaft viermal auf dem 2. Platz und zweimal auf dem 3. Platz.
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Anfang der Saison deutete nichts darauf hin. Die Verträge von mehreren langjährigen Publikumslieblingen liefen aus. Der Präsident liess sie ziehen und stellte eine völlig neue, unerfahrene Truppe zusammen. 11 von 27 Kadermitgliedern wechselte er dieses und letztes Jahr aus. Mit den Erlösen kaufte er billige junge Talente aus aller Welt ein, die vielversprechend, aber kaum bekannt waren. In Neapel sorgte das für grossen Unmut. Als De Laurentiis zu Beginn der Saison seine neue Mannschaft vorstellte, schlug ihm in den Medien und im Internet blanker Hass entgegen. Vor seiner Luxusvilla auf der Ferieninsel Capri protestierten Fans gewaltsam. Die Polizei riet dem Vereinspräsidenten, Freundschaftsspielen fernzubleiben, denn sie könne nicht für seine Sicherheit garantieren.
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Aurelio De Laurentiis war in Neapel nie beliebt. Er hat einen Hang zur Selbstinszenierung und benutzt ziemlich vulgäre Kraftausdrücke gegenüber Journalisten, die kritische Fragen stellen, oder gegenüber Trainern gegnerischer Mannschaften. Der Römer hat den Neapolitanern auch nie seine Liebe geschworen, wie es sich für einen Zugewanderten in seiner Funktion aus ihrer Sicht gehören würde. Er missbilligt ihre Pizza mit dicker Kruste. Er hat sich nie in Neapel niedergelassen, und selbst die heissgeliebte SSC Napoli hat ihren Sitz heute im verabscheuten Rom.
Doch nun erfüllt ausgerechnet Aurelio De Laurentiis mit seinem Team aus Unbekannten Neapels Traum des dritten Scudetto. Einfach zu verdauen ist das nicht. Am wenigstens für die Hardcore-Fans, die den Napoli-Präsidenten zutiefst hassen. Dieser hat sich so klar von den militanten Ultras distanziert wie keiner sonst in seiner Position. Als Reaktion auf mit Gewalt verbundene Randale schuf er die Stehplätze im Stadion ab und verbot das Mitbringen von Petarden, Trommeln und Fahnen. Die Ultras boykottierten deswegen die Spiele zeitweise.
Aurelio De Laurentiis kaufte die SSC Napoli nicht aus Leidenschaft, er witterte ein Geschäft. Sein Ziel bestand nie darin, die grössten Stars nach Neapel zu locken, er wollte einen gewinnbringenden Verein. Statt auf einen schnellen Sieg setzte er auf eine langfristige Strategie. Das war für die Neapolitaner, die für den Fussball ihr Leben liessen, schwer zu verstehen.
Je näher die Mannschaft zum Meistertitel rückt, desto williger anerkennen die Neapolitanerinnen und Neapolitaner aber das Verdienst des Römer Filmmoguls. Die SSC Napoli ist im Gegensatz zu anderen europäischen Top-Vereinen schuldenlos und unabhängig von fragwürdigen Investoren aus China oder den Golfstaaten. Ein einziges Mal – und das ist bemerkenswert in dieser Stadt – gab es in den letzten 19 Jahren eine gerichtliche Untersuchung wegen einer Steuerfrage in Bezug auf Napoli, und die wurde fallengelassen. Ebenso bemerkenswert ist, dass der Klub unter Aurelio De Laurentiis nie mit der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht wurde.
Viele Neapolitaner sind stolz darauf, dass ausgerechnet ihr Klub heute in ganz Italien als Vorbild gesehen wird. Sie lieben De Laurentiis deshalb noch lange nicht, aber immer mehr von ihnen respektieren den Präsidenten. Dass er kürzlich doch noch ein Haus auf dem Posillipo gekauft hat, einem schicken Viertel an einem steilen Hügel über der Küste, wo viele Fussballer residieren und einst auch Maradona gewohnt hatte, erleichtert die Versöhnung. Der «Corriere del Mezzogiorno» spricht mittlerweile von der «Neapolitanisierung» des 73-Jährigen, die Stadtregierung denkt über eine Ehrenbürgerschaft nach.