Wissenschaftler drängen auf „Plan B“: Die neue Corona-Welle überrollt Großbritannien
Sebastian Borger
In Großbritannien drängen Wissenschaftler, Praktiker und die Opposition die Regierung von Premier Boris Johnson, im Kampf gegen Sars-CoV-2 stärker gegenzusteuern. Angesichts hoher Neuinfektionsraten von mehr als 40 000 Menschen täglich sowie stetig steigender Hospitalisierungen und Sterbefälle müsse dringend „Plan B“ aktiviert werden, fordert Matthew Taylor vom Verband der Krankenhausträger.
Zu den gesetzlichen Covid-Maßnahmen solle das verpflichtende Tragen von Mund-Nase-Schutz, die Benutzung von Impfnachweisen und die Rückkehr ins Homeoffice gehören.
Experten warnen davor, das Gesundheitssystem NHS werde im Winter erneut den Notstand ausrufen und alle vermeidbaren Behandlungen absagen müssen. Schon jetzt warten mehr als fünf Millionen von Patienten auf Krebsvorsorge-Untersuchungen oder längst fällige Hüft- und Knieoperationen.
Die Zahlen weisen in ganz Großbritannien in die falsche Richtung. Die Inzidenz stieg zuletzt stetig auf mehr als 450, durchschnittlich hat das Land täglich 130 Covid-Tote zu beklagen.
Am Dienstag waren es 223 Tote, die höchste Zahl seit März. In Schottland liegt die Mortalität derzeit um 30 Prozent über den vergleichbaren Sterbezahlen in den Jahren 2015 bis 2019. Auf englischen Intensivstationen belegen an Covid-19 Leidende 15 Prozent der Betten.
Einschränkungen wurden im Sommer aufgehoben
Im Sommer hatte zunächst die für England zuständige Londoner Regierung sämtliche gesetzlichen Corona-Einschränkungen aufgegeben, die Regionen Schottland, Wales und Nordirland folgten später. In vielen Restaurants, in U-Bahnen und Museen sieht es seither aus, als habe es Covid-19 nie gegeben: keine Maske, nirgends.
In England werden Impfnachweise kaum verlangt, die entsprechende App lässt auf sich warten. Hingegen ist in Wales und seit Montag auch in Schottland beim Besuch bestimmter Events für Erwachsene der Impfausweis gesetzlich verpflichtend, unterstützt von der entsprechenden App des regionalen NHS-Ablegers. Betroffen sind Nacht- und Sexclubs, Konzerte und Sportveranstaltungen mit mehr als 500 Personen in der Halle oder mehr als 4000 Plätzen im Freien. Pubs und Restaurants bleiben bis auf weiteres befreit.
In Schulen sind ganze Jahrgänge lahmgelegt
In den Sekundarschulen, wo die Maskenpflicht teils auf den Gängen, teils überhaupt nicht mehr gilt, sind ganze Jahrgangsstufen durch Infektionen lahmgelegt. Das liegt auch daran, dass der ständige Impfausschuss JCVI sich lange gegen die Immunisierung von Minderjährigen gesträubt hatte.
Erst im August gaben die Wissenschaftler ihre zögerliche Haltung auf. Schon zuvor war die Impfrate auf der Insel hinter einer Reihe anderer europäischer Länder zurückgeblieben.
Während der Herbstferien können englische Schüler bürgernahe Impfzentren besuchen, wie es in Schottland längst der Fall ist. Dies kündigte die englische NHS-Chefin Amanda Pritchard während einer Befragung im Unterhaus an. In Bezug auf die älteren und besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen sprach Pritchard von mangelnder Begeisterung der zur Drittimpfung Eingeladenen.
Es gbit aber auch optimistische Töne. Francois Balloux vom Geninstitut am University College hofft darauf, die hohe Covid-Durchseuchung zum jetzigen Zeitpunkt werde auch ihr Gutes haben. Schließlich würden derzeit Infizierte im Winter entweder gar nicht erneut angesteckt oder ihr Krankheitsverlauf falle leichter aus. „Das könnte die Belastung der Krankenhäuser reduzieren.“
https://plus.tagesspiegel.de/ruf-nach-p ... 81413.html