Heiner Brand: Mein schlimmster Tag :

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erpie
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Heiner Brand: Mein schlimmster Tag :

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Heiner Brand: Mein schlimmster Tag : "Jo erwachte erst nach 131 Tagen wieder"
7-8 Minuten

Keiner trägt den Oberlippenbart so prominent wie er. Der frühere Handballnationaltrainer Heiner Brand wurde als bisher einziger Deutscher Weltmeister als Spieler und als Trainer. Doch schon früh erfuhr er, wie nah Erfolg und Abgrund beisammenliegen. Im zweiten Teil unserer Serie "Mein schlimmster Tag" spricht er über den Unfall seines Freundes Jo Deckarm.

Es soll ein schnelles Tor werden. Der Pass kommt von mir. Jo nimmt den Ball an, doch als er nach dem Zusammenstoß mit seinem Gegner auf den Boden knallt und dort liegen bleibt, gehe ich nicht direkt zu ihm. Wenn sich Spieler schwer verletzen oder stark bluten, kann ich das nicht mit ansehen. Sein Gesicht sei geschwollen, sagten die anderen später. Ein Arzt ist nicht in der Halle. Jo wird ins Krankenhaus transportiert. Wir spielen weiter. Und in der Kabine dann die Nachricht: Er schwebt in Lebensgefahr. Wahrscheinlich hat er schon beim Zusammenprall das Bewusstsein verloren.

Die Verletzung meines Teamkollegen Jo Deckarm war das Schlimmste und Traurigste, was mir bisher passiert ist. Es war am 30. März 1979, in der 23. Minute im Europapokal-Halbfinale in Tatabánya in Ungarn. Unter dem dünnen PVC lag direkt der Betonboden. Jo knallte ungebremst mit dem Kopf drauf. Wäre der Unfall heute passiert, hätte man ihm im Hubschrauber nach Budapest geflogen. So aber wurde er mit einer schweren Kopfverletzung im Krankenwagen über die Landstraße gefahren. Konnte keiner was dafür, war damals so.

Jo erwachte erst nach 131 Tagen wieder. Wir hörten davon, fuhren kurz darauf nach Homburg und stellten uns eine nette Begrüßung mit ihm vor. Waren wir schön naiv: nicht nach so langer Zeit im Koma. Er hatte einen doppelten Schädelbasisbruch, einen Gehirnhautriss und schwere Quetschungen im Gehirn. Mit seinem früheren Trainer trainierte er danach so hart, dass er zwischenzeitlich wieder gehen konnte. Heute sitzt er im Rollstuhl. Auch das Sprechen hat er sich mühsam selbst wieder beigebracht. Er ist ein Kämpfer.

Er weiß, dass er einen schweren Unfall hatte. Er weiß auch, dass er mit Lajos Pánovics zusammengestoßen ist. Mit dem hatte er im Laufe der Zeit ein paarmal Kontakt. Den hat das auch fertig gemacht, Pánovics hatte lange psychische Probleme mit dem Unfall. Wie Jo es emotional einordnet, das kann ich nicht sagen. Bin ich in all unseren Gesprächen noch nicht dahintergekommen.

Als es passierte, waren wir auf dem Höhepunkt. Ich war 26, er 25. Unsere Karrieren sind fast parallel verlaufen. Im Jahr vor dem Unfall waren wir Weltmeister geworden. Wir waren Freunde, spielten gemeinsam in Gummersbach und in der Nationalmannschaft. Und wir dachten: Was sollte uns schon passieren?

Für uns als Team ging das Leben danach weiter, er lag im Koma. Im ersten Jahr nach dem Unfall merkte ich, dass wir nicht mehr so intuitiv spielten. Manche Lücken, die da gewesen wären, ließen wir aus, weil wir zu lange nachdachten. Wir dachten an Jo, wir wurden vorsichtiger und es dauerte, bis das überwunden war. Als wir unsere Karrieren beendet hatten und Benefizspiele für ihn austrugen, war Jo wieder mit dabei. Wenn er da draußen saß, sahen wir ihn auf der Tribüne und wie sehr er auf fremde Hilfe angewiesen war. Da floss bei jedem von uns immer mal eine Träne. Aber jeder wollte helfen, Jo sollte nie allein mit seinem Schicksal sein. Es gab viele Benefizspiele und viele Spenden.

Bei der WM 2019 standen wir in der Halbzeit bei einem deutschen Spiel in Köln gemeinsam mit ihm auf dem Parkett. Da habe ich gemerkt, dass es nicht nur uns nahe geht, sondern auch den 19.000 anderen, die an seinem Geburtstag ein Ständchen für ihn sangen. Bis heute spenden Leute für den Deckarm-Fonds, mit dem seine Reha-Maßnahmen bezahlt werden. Den haben viele Handballfreunde, die Jo unterstützen wollten, bald nach seinem Unfall zusammen mit der Sporthilfe eingerichtet. Als der Unfall passierte, war er ja noch Student. Abgesichert waren wir alle damals nicht.

Viel wichtiger als das Geld oder die sportlichen Erfolge aber ist der Zusammenhalt, den wir daraus zogen. Die großen Ziele als Spieler sind der WM-Titel oder der Europapokalsieg. Durch den Unfall wurde mir aber früh in meinem Leben bewusst, dass Anderes wichtiger ist: Verantwortung, Solidarität, Demut vor dem Leben. Für diese Werte stehen wir bis heute. Ich würde behaupten, dass meine Mannschaften, die 2004 Europameister und 2007 Weltmeister wurden, diese Werte auch in sich trugen. In Gesprächen habe ich diese Erfahrung als Trainer immer weitergegeben. In unserer Gesellschaft gibt es viel Egoismus, Sport kann da vorbildlich hineinwirken. Zu dieser Überzeugung hat mich auch Jos Unfall geführt. Wenn man diese Werte in guten Zeiten lebt, zehrt man davon auch an schlechten Tagen.

Jo lebt heute hier in einem Seniorenheim in Gummersbach, ich bin regelmäßig da. Er mag Würfelspiele. Hallo Heiner, sagt er immer. Ab und zu sieht er die Nationalmannschaft im Fernsehen spielen, dann reden wir darüber. Er würde gerne mit mir Schach spielen – ist aber nicht mein Ding.

Manchmal überkommt mich auch nach 40 Jahren ein gewisser Schmerz über sein Schicksal. Ich bin durch Jos Unfall früher erwachsen geworden. Ein ganzes Leben kann sich binnen einer Sekunde verändern. Das habe ich gelernt. Aber alles, was gemacht werden konnte, wurde getan. Seit dem Unfall wird Jo so versorgt, wie es am besten möglich ist. Er hat immer zu unserem Team gehört, war und ist einer von uns.
https://www.zeit.de/sport/2021-04/heine ... mmster-tag
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
erpie