Corona-Infektion im Handball

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erpie
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Corona-Infektion im Handball

Beitrag von erpie »

Er kämpft sich zurück
47 Tage auf der Intensivstation, 24 Kilo verloren: Der Auer Handballtrainer Stephan Swat ist fast an Corona gestorben. Er überlebte und sieht das Leben und den Sport neu.
https://www.zeit.de/sport/2021-03/coron ... ettansicht
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
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Re: Corona-Infektion im Handball

Beitrag von erpie »

Gerade gesehen das eine Bezahlschranke davor ist, war vorhin noch nicht:
Spoiler
Show

Langsam ist der Stephan Swat von einst wieder zu erahnen, aber der Alte ist er noch nicht. Das erkennt, wer auf die Bilder blickt, die über seinem Bett hängen. Volles Gesicht, stattlicher Bart, breite Schultern. So sieht der Mann auf den Fotos aus. Der ein Bier in die Kamera hält, den ein Freund umarmt. Alte Zeiten.

Die Realität heute ist eine andere. Sie liegt hinter einer weißen Tür, in einem gelb gestrichenen Zimmer mit einem schmalen Bett, einem Schrank und einem Tisch. Hier lebt Swat gerade. Ein 1,91 Meter großer und ehemals 95 Kilo schwerer Handballtrainer, den das Coronavirus geschrumpft hat. 24 Kilo hat er abgenommen, das Gesicht ist schmaler als früher, die Schultern auch.

Swat ist kein alter Mann. Er ist 43, vor nicht einmal zehn Jahren hat er noch Handball gespielt. Nun ist er seit knapp sechs Wochen in der Reha in Flechtingen, Sachsen-Anhalt. Er soll sich von seiner Covid-19-Erkrankung erholen. Mit einer Ausnahmegenehmigung und einem Test an der Pforte kann man ihn besuchen. 47 Tage Intensivstation hat er hinter sich, zwölf davon im künstlichen Koma. "Ich bin dem Tod von der Schippe gesprungen."

2003 kam er als Handballer zum EHV Aue. 2012 wurde er Co-Trainer, vier Jahre später Chef. Einen Handballfan, der Swat nicht kennt, gibt es im Erzgebirge nicht. Jetzt kennen ihn Fans in ganz Deutschland.

Stephan Swat: "Ich bin dem Tod von der Schippe gesprungen." © Ronny Hartmann für ZEIT ONLINE

Stephan Swat ist der Handballtrainer, den das Virus für acht Wochen vom Handballfeld ins Krankenhaus schickte. Und der EHV Aue ist der Zweitligist, der mitten in der Saison ohne Trainer dastand und trotzdem weiterspielte. Was macht das mit einem Trainer? Und was macht es mit seinem Verein?

Ich erinnere mich an eine Situation, da war Stephan schon eine Zeit im Krankenhaus. Da war ich zu Untersuchungen bei unserem Mannschaftsarzt und hab nach Stephan gefragt, wie es aussieht und was er meint. Der hat mich nur angeguckt und mit dem Kopf geschüttelt. Da war mir alles klar, wie er abwinkt, auf die Erde guckt. Das hat mehr gesagt als Tausend Worte. (Bengt Bornhorn, Kreisläufer EHV Aue)

In der zweiten Bundesliga darf seit Oktober gespielt werden wie in der Bundesliga. Das ist ein Privileg, aber auch ein Risiko, trotz Hygienekonzept. Das wissen sie beim EHV. Drei Mal waren sie schon in Quarantäne. Zum ersten Mal Mitte Oktober, nach dem Spiel gegen den HSV Hamburg. Drei Spieler waren infiziert.

Sie kamen zurück am 14. November, Heimspiel gegen Bietigheim. Am Montag danach werden Bietigheimer Spieler positiv getestet. Als Swat kurz darauf für seine Familie kocht, kann er das Essen nicht mehr riechen. Ihm ist klar, was das heißt. Wenig später ist auch sein PCR-Test positiv.
Es geht weiter, ohne Swat

Atemübungen: Die Leistungsfähigkeit von Swats Lunge liegt inzwischen wieder bei 75 Prozent. © Ronny Hartmann für ZEIT ONLINE

Neben Swat infiziert sich fast die ganze Auer Mannschaft. Manche Spieler haben kaum Symptome, andere erwischt es härter. Doch nach und nach kehren sie ins Training zurück. Am 5. Dezember tritt der EHV wieder an, beim TV Hüttenberg. Ohne Swat, er liegt im Krankenhaus.

Der deutsche Profisport hat schon einige Corona-Ausbrüche gesehen. Im Fußball, Basketball, Handball, überall sind Fälle bekannt. Auch im Einzelsport gab es Infektionen. Einige haben mit den Folgen zu kämpfen, etwa der Ringer Frank Stäbler. Doch bei den meisten Profis verläuft die Krankheit glimpflich. Auch beim EHV war das so. Nur bei Swat nicht, was den Verein mit der Frage konfrontierte: Wie weitermachen, wenn das Virus den Trainer von Tag zu Tag mehr fertig macht?

Den Kreisläufer Bengt Bornhorn hat es schon im Oktober erwischt. Als Swat am 25. November ins Krankenhaus muss, sagt sich Bornhorn: "So alt ist der ja nicht. Da wollen wir mal nicht schwarzmalen." Dann aber kommen die schlechten Nachrichten im Drei-Tage-Rhythmus. Gleichzeitig läuft die Saison weiter.

Wir haben Unentschieden gespielt in Hüttenberg, was sich nach dem Spiel keiner so richtig erklären konnte. Irgendwie lief’s. Vor dem Spiel sind wir alle in alten Trikots von Stephan eingelaufen. Als ich dieses Trikot zum ersten Mal angezogen habe, da habe ich mich extrem unwohl gefühlt, weil mir das alles noch mal vor Augen gerufen hat. Ich dachte so: Hä, wie können wir denn jetzt Handball spielen? (Bengt Bornhorn)
"Mein Körper hat aufgegeben"

Währenddessen starrt Swat jeden Tag auf die gleichen Wände. "Überall sind Schläuche, ständig piept irgendwas, du kommst nie zur Ruhe." Er hat Schlafstörungen, halluziniert sogar.

Rüdiger Jurke, dem Manager des EHV, bleibt nichts anderes übrig, er muss einen neuen Trainer suchen. Jurke ist nicht nur der Chef von Swat, er ist sein Freund. Als Swat 2003 als Spieler nach Aue kam, war Jurke schon einige Jahre da, gemeinsam führten sie den EHV in die zweite Liga.

Jurke ruft Rúnar Sigtryggsson an. Der Isländer trainierte Aue zwischen 2012 und 2016. Am 7. Dezember gibt der Verein die Verpflichtung des Interimscoach bekannt. Einen Tag später ist das nächste Spiel.

Im Krankenhaus greift Swat zu seinem Handy, er schreibt seiner Frau Ramona. "Ich mach jetzt mal das Handy aus." Er wird ins künstliche Koma versetzt und beatmet. "Mein Körper hat aufgegeben."
"Wir wussten nicht, ob er überlebt"

Ein Tischtennisschläger und ein Handballmagazin im Zimmer von Stephan Swat. Er liest schon wieder Fachlektüre. © Ronny Hartmann für ZEIT ONLINE

Es gibt Bilder aus dieser Zeit, Romana Swat hat sie geschossen. Aus dem kerngesunden Mann ist alles Kraftvolle entwichen. Die Haare kurz, der Bart abrasiert, das Gesicht eingefallen. Am ganzen Körper hat er sich die Haut aufgeschürft, weil er während der künstlichen Beatmung viele Stunden auf dem Bauch liegt. Deshalb hat er sich auch einen Nerv im rechten Arm eingeklemmt. Er kann ihn immer noch nicht voll bewegen. "Das kotzt mich an", denkt er manchmal, wenn er einen Rückschlag hinnehmen muss.

Hin und wieder geht er spazieren, raus aus der Klinik, über die Terrasse, rüber zum See, der Großen Renne. So auch jetzt. Die gegenüberliegende Seeseite erreicht man schon nach ein paar Minuten. Die kleine Burg, genannt Wasserburg, gehöre einer Russin. Zumindest hat er das gehört. "Manchmal fehlt mir ein Ziel", sagt er, "ein Café, als Belohnung für die Anstrengung". Hat ja alles zu. "Aber ist auch nicht so wichtig, ich bin hier zum Arbeiten."

"Das war extrem", sagt Rüdiger Jurke über die Wochen Ende des vergangenen Jahres. "Wir wussten nicht, ob er überlebt. Die Ärzte sprachen von einer Chance unter 20 Prozent." Im Verein seien alle enger zusammengerückt. Den Spielern erzählte er nicht im Detail, wie schlecht es um ihren Trainer stand. Nur das Nötigste.

Wir hatten regelmäßig Videokonferenzen, wo wir über die Situation gesprochen haben. Da haben wir erfahren, dass es Swati nicht gut geht. Das hat sich dann alles noch mal rapide verschlechtert. Für mich war das eine ganz surreale Situation: Auf einmal war unser Trainer weg und trotzdem mussten wir im Dezember, gerade selbst aus der Quarantäne raus, sieben Spiele nachholen. Ich bin mir ein bisschen wie im falschen Film vorgekommen. (Maximilian Lux, Rechtsaußen EHV Aue)

Während ihr Trainer ums Leben kämpft, haben die Handballer vom EHV Aue fast jeden dritten Tag das nächste Spiel. Man habe nicht ständig darüber gesprochen, sagt Maximilian Lux. "Wir haben uns einfach gesagt: Hey, wir spielen gut für ihn."
Junge, fitte Menschen, die sind doch gut geschützt

Jurke besucht Swat, seinen Freund, ab und zu im Krankenhaus. Er bekommt es mit der Angst zu tun, etwa wenn die Nummer des Mannschaftsarztes auf seinem Handydisplay erscheint. Im Auto kommen ihm schon mal die Tränen.

Beim EHV Aue wussten sie schon, dass Corona für jeden gefährlich sein kann. "Aber wenn es einen selbst nicht trifft, hat man eine Distanz zu der Sache", sagt Jurke. Natürlich wähnten sie sich weniger im Risiko als der Skatverein. Das passt zum Bild, das die meisten von den Leistungssportlern und -sportlerinnen haben. Junge, fitte Menschen, die sind doch vergleichsweise gut geschützt. Was sie ja auch sind, im Schnitt. Aber was sagt das über den Einzelnen?

Erste Ergebnisse noch laufender Studien legen nahe, dass Long-Covid auch die Fittesten und Trainiertesten nicht auslässt. Kurzatmigkeit, chronische Müdigkeit, Gedächtnisausfälle – das trifft auch Athleten. Und trotzdem rechnet man damit, dass Thomas Müller nach seiner Infektion wieder fit zurückkommen wird. Meist kommt es so. Aber bei Swat, einem fitten Ex-Handballer, kam es anders.

Zwölf Tage liegt er im Koma. Am 20. Dezember wacht er auf. Die Situation ist ernst. Swats Körper wehrt sich gegen die Sauerstoffzufuhr, er hustet das Beatmungsgerät aus. Noch bis Weihnachten glauben die Pflegekräfte in manchen Nächten, dass er stirbt.
Sie applaudieren, als er die Intensivstation verlässt

Hin und wieder geht er spazieren, raus aus der Klinik, über die Terrasse, rüber zum See. © Ronny Hartmann für ZEIT ONLINE

Erst einen Monat später, Ende Januar, wird er im Krankenbett aus der Intensivstation gefahren. Die Ärztinnen und Pfleger stehen im Flur Spalier, applaudieren ihm und wohl auch sich selbst. "Das macht was mit dir", sagt Swat. "Und dann das erste Mal wieder frische Luft, auf dem Weg aus dem Krankenhaus in den Krankenwagen."

Es ist Januar 2021, dem EHV Aue fehlt seit über acht Wochen der Trainer und es kommen erstmals positive Signale.

Als dann die Nachricht kam, dass es langsam besser wird, das war wirklich, puh … ein richtiges Aufatmen. Nach diesen ganzen Negativmeldungen war das ein Zeichen: Hey, es geht bergauf und das wird wieder, auch wenn es ein langer Weg ist. Das war wirklich 'ne riesen Nachricht, eine Erleichterung. (Maximilian Lux)

Stephan Swat darf für vier Tage nach Hause. Erstmals kann er wieder selbstständig atmen, braucht keinen zusätzlichen Sauerstoff. Beim Spazieren schafft er bis zu 500 Meter. Seine Frau hat etwas vom Braten tiefgefroren. Sie feiern Weihnachten im Februar.

Gerade geht die zweite Reha-Zeit für Swat zu Ende. Über Wochen hat er Selbstverständliches üben müssen: Laufen, Greifen, Stehen. Der Trainer wurde zum Trainierten. Am Anfang konnte er sich nicht mal allein im Bett aufrichten, die Muskeln haben sich durch das Liegen zurückgebildet. "Da schüttelst du mit dem Kopf." Atemtraining, Physiotherapie, Ergotherapie, sechs bis elf Termine am Tag.

Die alte Form ist noch ein Stück weg. Immerhin werden die Fortschritte größer, kommen die Erfolge schneller.

Manchmal merkt er, dass er eine ganze Zeit verpasst hat. An einem Abend schaut er Fußball und wundert sich, dass Edin Terzić an der Seitenlinie von Borussia Dortmund steht. Trainierte nicht Lucien Favre den BVB?

Jetzt, Mitte März, will er zurück zu seiner Familie. In einigen Tagen darf er. "Die Familie ist mein größter Antrieb." Viele Menschen haben an ihn gedacht, Briefe oder Nachrichten hinterlassen. Am meisten motiviert hat ihn ein Zettel von seiner Frau und seiner Tochter. "Kämpf' für uns!"

Stephan Swat (links) und ZEIT-ONLINE-Autor Fabian Held © Ronny Hartmann für ZEIT ONLINE
Die Krankheit hat seine Perspektive verändert

Im Sommer will er wieder als Trainer arbeiten. Er hat Kontakt zum Team. "Viel Erfolg" schreibt er vor den Spielen in die WhatsApp-Gruppe. "Glückwunsch", wenn sie gewonnen haben. Die WM im Januar hat er verfolgt. Beim Finale gönnte er sich das erste Bier, erzählt er. Nach einer Dreiviertelflasche war er angetrunken.

Handball, das ist ein Stück seines Lebens. Einerseits. Andererseits hat die Krankheit seine Perspektive verändert. Er hat eine neue Wertschätzung für das Alltägliche bekommen. "Ich bin sehr ehrgeizig", sagt er, "aber Handball ist nicht alles. Irgendwann muss ich den Laptop auch mal zuklappen, dann ist die Handballzeit vorbei und die Familienzeit fängt an."

Swat geht langsam um die Große Renne, aber er schnauft nicht schwer. Auf einer kleinen Terrasse über dem See bleibt er stehen, stützt sich auf ein Geländer und blickt aufs Wasser: "Enten schwimmen immer in Paaren, ein Männlein und ein Weiblein." Was will er damit sagen? "Ich bin bewusster geworden, das will ich mir unbedingt behalten. Nicht immer nur an Handball denken." Auch mal an Enten. Er grinst. "Früher war mein Kopf voll mit Handball. Erst jetzt fällt mir das auf."
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
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