Corona-Gipfel im Kanzleramt: Angela Merkels Osternacht
Robert Birnbaum, Georg Ismar
11-14 Minuten
Morgens kurz nach Eins ist Angela Merkel wieder auf dem Schirm. Fast sieben Stunden war Sendepause in der großen Corona-Videoschalte der Ministerpräsidenten. Über Osterurlaub wollten viele dort eigentlich sprechen, über Familienbesuche, über ein bisschen Lichtblick in der Pandemie.
Doch als die Kanzlerin mit einem knappen „Guten Morgen allerseits“ die unterbrochene Runde wieder einleitet, weiß schon jeder der Beteiligten: Der Urlaub ist gestrichen. Über Ostern fährt Deutschland komplett herunter.
So planlos durcheinander war die Runde noch nie
Das hatten sich manche völlig anders gedacht. Nur hatten sie es, wie einer aus dem „Team Vorsicht“ am Dienstagfrüh anmerkt, nicht besonders klug angestellt dabei. Denn ein Ausbund an Einigkeit waren die Corona-Runden bei der Kanzlerin nie, aber zum 20. Jubiläum treiben sie es endgültig bunt.
Als das Kleeblatt der Vorab-Verhandler um Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) und Berlins Regierenden Michael Müller (SPD) am Montagvormittag den Sachstand der Vorberatungen umherschickt, zieren den Beschlussentwurf nicht nur 44 eckige Klammern – im Vertragswesen das Zeichen für „noch nicht einvernehmlich“. Ganze Absätze sind obendrein in Blau und Rot gedruckt.
„Sonst blickt keiner mehr durch, was er selbst gerade fordert“, spottet einer aus dem Kreis der Unterhändlertruppe. Lange rangen in den Konferenzen mit der Kanzlerin nur Vorsichtige und Lockerer miteinander. Jetzt stehen zusätzlich Küsten- gegen Binnenländer, Strikte gegen Experimentierer, Wahlkampf spielt hinein, und alle sind irgendwie gegen die Kanzlerin.
Die Notbremse stottert
Dabei ist die Lage so unerfreulich wie klar. Vor gut drei Wochen hat die Runde beschlossen, dass man es zur Abwechslung mit „Lockern in die dritte Welle hinein“ versucht. Angela Merkel konnte mit Mühe und Not die Notbremse durchsetzen: Ab Inzidenzwert 100 geht es zurück in den Lockdown.
Der Wert ist jetzt bundesweit erreicht.
Doch Konsequenz ist schon lange nicht mehr. Wichen früher nur Länder von den eigenen Beschlüssen ab, stellen sich inzwischen Bürgermeister quer. Ein ganzer Chor behauptet mittlerweile, man könne nicht alles vom Inzidenzwert abhängig machen, als ob sich die Pandemie irgendwie wegzaubern ließe, wenn man nur die richtige Zahlenkombination kennt.
Protest ist überall
Viele sind des Rechnens sowieso müde. Bei Merkel ist gerade ein offener Brandbrief großer Einzelhandelsketten eingegangen. Einkaufen, heißt es darin, sei ungefährlich. Beweis: In Hannover und im Erzgebirge seien die Läden dicht und die Zahlen trotzdem gestiegen. Kämen ihre Prokuristen ihnen mit derartiger Logik, würden sie gefeuert. Im Kampf ums Überleben ist alles recht.
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Auch der Kampf um Wählerprozente treibt Blüten. Am Sonntag twittert Kanzleramtschef Braun: „Das in Berlin gerade kursierende Papier zur morgigen MPK (Ministerpräsidentenkonferenz) stammt NICHT aus dem Kanzleramt.“ Das Papier stammt vielmehr aus den Staatskanzleien der SPD-regierten Länder.
Es fühlt sich aus der Sicht des geplagten Bürgers ziemlich gut an. „Modellprojekte“ tauchen darin auf - und ein „kontaktarmer“ Osterurlaub in heimischen Ferienwohnungen und auf Campingplätzen. Die Idee stammt aus den Küstenländern. Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschefin Manuela Schwesig (SPD) hat sich mit den Kollegen aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein, Stephan Weil (SPD) und Daniel Günther (CDU) zusammengetan. Später springen Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt auf.
Mallorca ist bereit für den Urlauberansturm ...
Die Idee soll den Unmut über Mallorca auffangen. Dass die Balearen-Inseln mit ihren niedrigen Inzidenzen kein Risikogebiet mehr sind und deshalb jeder dort problemlos hinreisen kann, hat viel Unverständnis ausgelöst
Nur ist das die Rechtslage. Die kann man nicht ignorieren, sonst, so haben im Vorfeld das SPD-geführte Justizministerium genauso gewarnt wie das CSU-geführte Innenministerium, erntet man bloß Klatschen vor Gericht.
Lauterbach als Schatten-Gesundheitsminister
Doch Karl Lauterbach, inzwischen der Schatten-Gesundheitsminister der SPD, hat der SPD-Seite in einer Schalte eingeschärft, auf Mallorca sei die gefährliche brasilianische P1-Mutation unterwegs. Kurz bevor die eigentliche Konferenz beginnt, formuliert die Viererbande – Merkel, der Berliner Regierende Michael Müller (SPD), der Bayer Markus Söder (CSU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) – einen Kompromiss, der später im Kern auch beschlossen wird: Künftig soll ein Negativtest vor dem Abflug zur Bedingung für die Einreise nach Deutschland auf dem Luftweg werden, egal wo der Flieger startet.
Der Campingurlaub bleibt trotzdem auf der Wunschliste. Er wird zu dem Punkt, an dem es fast zum Bruch kommt. Er wird aber auch zu Merkels Hebel.
Auf SPD-Seite wird zu dem Zeitpunkt von zwei Lagern quer durch die Parteien gesprochen: „Die einen wollen stumpf den Lockdown fortsetzen und die anderen auch mal was Neues ausprobieren.“ Das geht gegen Merkel. Es soll so klingen wie: Den einen fällt nix ein, und wir anderen machen uns Gedanken. Zum Beispiel Schwesig, die es super fand, beim Drittliga-Spiel Rostock gegen Halle mal versuchsweise 777 Zuschauer ins Stadion zu lassen..
.... Rügen aber auch!
Aber so einfach in die Guten und die Bösen geteilt ist die Welt nicht, vor allem nicht die Welt der Pandemie. Nach gut drei Stunden hat sich die Runde festgefahren. Merkel ist sauer. Bis jetzt, schimpft die Kanzlerin, habe man beschlossen, dass bis zum 18. April alles weiter so bleiben soll wie bisher. Aber „wie bisher“ hat die dritte Welle nicht gestoppt. Merkel und Kanzleramtschef Braun haben eingangs mit Kurven und Zahlen vorgeführt, dass sie sich weiter aufbauen wird bis ins Unbeherrschbare.
Sachsen-Anhalts Regierungschef Rainer Haseloff (CDU) wirft ihr „verbale Aufrüstung“ vor. Merkel findet den Vergleich mit Rüstungskontrollverträgen völlig daneben: „Das Virus verhandelt nicht. Es macht.“
Das Virus verhandelt nicht.
Angela Merkel
In der Sache hat Merkel mit ihrer Unzufriedenheit recht. Einigkeit herrschte nur, dass die Beschlüsse fortgelten, inklusive „Notbremse“. Dass Schulen schließen müssen, wenn sie keine zwei Tests pro Woche hinkriegen, lehnen die Länder ab. Merkels Entlastungsangebot - eine kurze Sonder-Besuchsregelung für die Ostertage ähnlich wie zu Weihnachten - lehnen sie auch ab.
Merkels Forderung, die „Notbremse“ durch nächtliche Ausgangssperren zu verschärfen, lehnen sie erst recht ab. „Das ist doch Wahnsinn“, hat schon vorher ein Norddeutscher geschimpft, als der Punkt im Vorschlag aus dem Kanzleramt auftauchte. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz gab im Corona-Kabinett auch gleich mal Skepsis zu Protokoll.
Dagegen, die Wirtschaft zu Homeoffice und Testpflicht zu zwingen, ist wiederum die Unionsseite. CDU-Chef Armin Laschet interveniert. Bei der SPD ziehen manche die Augenbrauen hoch, typisch - die Bürger in die Pflicht nehmen, die Bosse nicht. Aber es bleibt am Ende beim Appell.
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Nur: Keine Verschärfungen, dafür aber Osterurlaub à la „Mallorca vs. Ferienhaus“, wie ein Betrachter der Schaltrunde sarkastisch formuliert – in Merkels Augen wäre das die völlig falsche Botschaft. Weil wir die Reisewelle nach Mallorca nicht stoppen können, erlauben wir zum Ausgleich eine im eigenen Land obendrein? Nicht ihre Logik.
Die Viererbande zieht sich im Kanzleramt zurück. Vor den Bildschirmen in den Staatskanzleien warten die anderen. Von Mallorca trudelt eine Meldung ein: Dort wird die Gastronomie in geschlossenen Räumen wieder untersagt. Weil die Inzidenz über 25 gestiegen ist. „Alles kommt zu dem, der warten kann“, sagt einer der Urlaubsfans zu seinen Mitarbeitern.
Merz wittert eine frohe Botschaft
Auch im Sauerland hat einer Witterung aufgenommen. Friedrich Merz will Bundestagskandidat für den Hochsauerlandkreis werden. Es wird eine Kampfkandidatur, da kann es nicht schaden, Einsatz für die Heimat zu demonstrieren. Merz schickt eine Pressemitteilung an die örtliche „Westfalenpost“. Die macht sie zur Spitzenmeldung: „Friedrich Merz fordert gleiche Regeln für HSK und Mallorca.“
Im Live-Format der „Bild“-Zeitung witzelt Wolfgang Bosbach über den Tisch, dem es egal sei, wenn die Kanzlerin draufhaue.
Es stimmt, Merkel hat in zwanzig Corona-Konferenzen am Ende die Einigkeit über alles gestellt, sogar über besseres Wissen. Aber wenn sie ihre eigenen Worte ernst nimmt, kann sie diesmal nicht klein beigeben um des lieben Friedens Willen. Das Virus verhandelt nicht.
Darum muss sie verhandeln. Sonst, sagt Merkel, ist die Inzidenz im April bei 200. Die Intensivstationen voll, diesmal nicht mit Alten, sondern mit den 50- und 60jährigen, die widerstandsfähiger sind und deshalb länger liegen: Weniger schwere Fälle, trotzdem das System am Limit. Ein simpler Dreisatz. Nichts habe sie in der Hand, sagt die Kanzlerin, wenn nichts beschlossen werde, um diesen Pfad zu stoppen.
Darin liegt eine unmissverständliche Drohung: Wir können hier auch ohne Einigung auseinandergehen, gescheitert vor aller Augen.
Der offene Bruch aber erscheint auch den Urlaubsfans ein zu hoher Preis für Ferienwohnung und Campingurlaub in Harlingersiel und Boltenhagen. Von der Unionsseite kommt der Vorschlag, mit dem Merkel und die Viererbande in der Nacht zurück in die Runde kommen, nach vielen Einzelgesprächen und Kollektivberatungen.
Müde Sieger: Angela Merkel und Markus Söder bei der Pressekonferenz
Über Ostern, vom 1. bis zum 5. April, fährt Deutschland herunter, was immer geht. Am Samstag darf man noch Lebensmittel „im engen Sinn“ einkaufen. Sonst soll alles ruhen, Arbeit, Reisen, auch keine Familienbesuche.
Der „enge Sinn“ hat übrigens seinen Anteil daran, dass die Unterbrechung fast sieben Stunden dauerte. Praktisch um jeden einzelnen Laden haben sie sich gestritten. Gründonnerstag alle Supermärkte zu, aber am Ostersamstag für den Braten wieder auf? Was ist mit Restaurants? Restaurants, heißt es jetzt, nur fürs Abholen. Und was ist mit Tankstellen? Ok, bleiben auf.
Um kurz nach halb Drei in der Pressekonferenz wirken die Protagonisten müde und angestrengt. Das Land sei in einer „sehr, sehr ernsten Lage“, sagt Merkel. „Das Team Vorsicht hat sich insgesamt durchgesetzt, bei allen“, sagt Söder. Sogar Merkels Ausgangssperre steht jetzt in dem siebenseitigen Beschluss, als mögliche Verschärfung in Landkreisen, die die 100er-Marke überschreiten.
Aber jetzt bleibt nur noch hoffen. Hoffen, dass der „Wellenbrecher“-Lockdown wirkt, so kurz er werden soll. Hoffen, dass die Leute mitmachen, das Testen in großem Maßstab funktioniert, das Impfen nicht wieder stockt. Merkel hat eine letzte Karte gezogen. Mehr auf der Hand hat sie nicht.
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