Früher war mehr Nähe: Fußball + Journalismus

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Depp72
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Registriert: Montag 24. Juni 2019, 19:00

Früher war mehr Nähe: Fußball + Journalismus

Beitrag von Depp72 »

Sehr unterhaltsamer SZ-Kommentar: https://www.sueddeutsche.de/kolumne/fus ... -1.5050207
Spoiler
Show
SZ hat geschrieben:Uli Hoeneß ruft kaum mehr an, geheime Interviews wie einst mit Philipp Lahm sind heute undenkbar: Das Verhältnis zwischen Fußballer und Reporter hat sich gewandelt. Ist das nun gut oder schlecht?
[...]
Uli Hoeneß ruft aber auch wegen Corona nicht mehr an. Es ist nämlich so: Wenn nicht Hoeneß selbst etwas von einem wollte, sondern man selbst etwas von Hoeneß, dann gab es dafür ein präzises Drehbuch. Dieses besagte, dass man ein Word-Dokument öffnen musste, so etwas wie "Hallo Herr Hoeneß, könnten Sie bitte mal zurückrufen?" hineinschrieb, das Papier mit dem Sätzlein an den Redaktionsdrucker schickte und dann, sobald ausgedruckt, direkt daneben ins Redaktionsfaxgerät legte, in dem Hoeneß' Nummer selbstverständlich eingespeichert war. Man hat dann immer hoffen müssen, dass Hoeneß zu Hause ist, dass er oder seine Frau Susi da vorbeilaufen, wo in ihrem Haus am Tegernsee das Faxgerät steht, und dass er dann vielleicht zurückruft. Das hat er tatsächlich oft getan, oft wurden die Gespräche dann ganz gesellig. Anfangs hat er noch ein bisschen geschimpft und gesagt, dass er nix sagen will. Er hat dann aber so lange nix gesagt, dass man nach einer Stunde meistens doch ganz gut Bescheid wusste.

Aber jetzt eben Corona: Welcher Reporter hat im Home-Office noch ein Faxgerät? Ein Handy besitzt Hoeneß zwar, wie glaubwürdige Zeugen gerne versichern. Nur: Er nutzt es halt nicht.

Auch das hat sich geändert, wenn man über den FC Bayern schreibt: dass man das so oft ohne Uli Hoeneß tut. Wenn man heute über den FC Bayern schreibt, dann hat man oft Kontakt mit Leuten, deren Titel zu Hoeneß' besten Zeiten noch nicht mal erfunden war. Man spricht mit Spindoktoren und solchen, die sich dafür halten, man ruft Medienberater von Spielern an, um dann herauszufinden, dass die Spieler noch einen zweiten Medienberater haben, der vielleicht aber auch nur ein Kumpel ist. So genau weiß man das nicht. Wenn man ein offizielles Interview mit einem Bayern-Spieler führt, bekommt man es manchmal dreifarbig zurück. Die Presseabteilung des Vereins hat dann drin rumautorisiert (sagen wir: in Rot), der Medienberater des Spielers hat Anmerkungen gemacht (grün), und er hat es sicherheitshalber noch dem richtigen Spielerberater geschickt, dem auch noch was aufgefallen ist (blau).
[...]
Damals hat Lizarazu selber Cafés vorgeschlagen, mit ein bisschen Glück sogar am Gärtnerplatz. Er kam vielleicht mal eine halbe Stunde zu spät zum Gespräch, le Training, pardon!, aber er ist dafür auch zweieinhalb Stunden sitzen geblieben, und am Ende wusste man, was er von der Personalpolitik des Vereins hält, welcher Neuzugang besonders gut kicken kann und vielleicht auch, welcher Schiedsrichter ein Depp ist. Man hat das selbstverständlich nicht einfach in die Zeitung hineingeschrieben, man war ja von der vornehmen SZ, und vor allem: Man hätte niemals das Vertrauensverhältnis zum Spieler gefährdet.

Dieses Muster, immerhin, hat die Zeiten überdauert: Ein guter Bayern-Reporter muss immer mehr wissen, als er schreibt. Manchmal ist das ein bisschen schade, man würde ja so gerne verraten, dass ... Geht aber leider nicht. Gebrochenes Vertrauen wächst deutlich langsamer zusammen als ein gebrochener Mittelfuß
[...]
Klar: Früher war mehr Nähe. Ich kann mich erinnern, dass ich in meinen ersten Tagen in diesem Job noch auf die Tartanbahn des Stuttgarter Stadions durfte, eine halbe Stunde vor dem Anpfiff eines Bundesligaspiels, und dann kam der Trainer Magath vorbei und hat einem mit süffisantem Grinsen erläutert, warum der eine Spieler heute spielt oder auch nicht. Und auch im Münchner Olympiastadion (ja, liebe Kinder, da wurde mal Fußball gespielt) kam man nach den Bundesligaspielen in die Nähe des Kabinengangs und konnte die Spieler abfangen, und man war klar im Vorteil, wenn man den Spieler schon vom Gärtnerplatz kannte. Heute gibt es immer noch (wenige) Bayern-Spieler, mit denen man einen Espresso trinken kann (ohne Milch, denn Milch ist für Spieler böse), aber natürlich nur, wenn sich vorher der eine von zwei Medienberatern eingeschaltet hat, der aber vielleicht auch nur ein Kumpel ist.
[...]
Sind die Spieler heute langweiliger als früher? Auch das ist die falsche Frage. Die Spieler haben heute gar keine andere Wahl, als so aufzutreten, wie sie auftreten, sie wissen das ja sehr genau: dass jeder aus dem Zusammenhang gerissene Satz viel mehr ist als nur ein aus dem Zusammenhang gerissener Satz. Das war er vielleicht früher bei Lizarazu, schon bei Lahm war er's nicht mehr so richtig. Schon da liefen die Sätze eine Stunde später über die roten Bänder bei n-tv. Heute ist so ein Satz schneller in den sozialen Medien, als er gesagt ist, und er verändert seine Gestalt mit jedem weiteren Klick. Kein Bayern-Spieler kann heute mehr einfach so sagen: Ich kenn' den Timo Werner noch aus der Jugendnationalmannschaft, super Typ, der Timo. Jeder in der Branche weiß ja, dass viele Bayern-Spieler ihren alten Kumpel gerne in der Mannschaft hätten, und so würde dieser Satz heute nach ein paar Klicks so zusammengefasst: Spieler XY fordert: Timo Werner nach München! Oder der Klassiker: Spieler XY geht auf Bayern-Bosse los. Dann sagt er halt lieber nix, der Spieler XY.
[...]
Von uns die Arbeit, von Gott den Segen.
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Linden
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Re: Früher war mehr Nähe: Fußball + Journalismus

Beitrag von Linden »

Schönes Ding.
Machen wir uns nix vor, die Menschheit ist grundsätzlich einfach krass bescheuert.

Ceterum censeo ruborem taurum esse delendam.

Tod und Hass dem Putinregime
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Atlan
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Re: Früher war mehr Nähe: Fußball + Journalismus

Beitrag von Atlan »

Danke fürs Einstellen, Depp! :thumbup:
Grün/Weiße Grüße :wave:
Alle wollen zurück zur Natur. Aber keiner zu Fuß.
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Hexer_h1
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Re: Früher war mehr Nähe: Fußball + Journalismus

Beitrag von Hexer_h1 »

Depp72 hat geschrieben: Donnerstag 8. Oktober 2020, 08:41 Sehr unterhaltsamer SZ-Kommentar: https://www.sueddeutsche.de/kolumne/fus ... -1.5050207
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SZ hat geschrieben:Uli Hoeneß ruft kaum mehr an, geheime Interviews wie einst mit Philipp Lahm sind heute undenkbar: Das Verhältnis zwischen Fußballer und Reporter hat sich gewandelt. Ist das nun gut oder schlecht?
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Uli Hoeneß ruft aber auch wegen Corona nicht mehr an. Es ist nämlich so: Wenn nicht Hoeneß selbst etwas von einem wollte, sondern man selbst etwas von Hoeneß, dann gab es dafür ein präzises Drehbuch. Dieses besagte, dass man ein Word-Dokument öffnen musste, so etwas wie "Hallo Herr Hoeneß, könnten Sie bitte mal zurückrufen?" hineinschrieb, das Papier mit dem Sätzlein an den Redaktionsdrucker schickte und dann, sobald ausgedruckt, direkt daneben ins Redaktionsfaxgerät legte, in dem Hoeneß' Nummer selbstverständlich eingespeichert war. Man hat dann immer hoffen müssen, dass Hoeneß zu Hause ist, dass er oder seine Frau Susi da vorbeilaufen, wo in ihrem Haus am Tegernsee das Faxgerät steht, und dass er dann vielleicht zurückruft. Das hat er tatsächlich oft getan, oft wurden die Gespräche dann ganz gesellig. Anfangs hat er noch ein bisschen geschimpft und gesagt, dass er nix sagen will. Er hat dann aber so lange nix gesagt, dass man nach einer Stunde meistens doch ganz gut Bescheid wusste.

Aber jetzt eben Corona: Welcher Reporter hat im Home-Office noch ein Faxgerät? Ein Handy besitzt Hoeneß zwar, wie glaubwürdige Zeugen gerne versichern. Nur: Er nutzt es halt nicht.

Auch das hat sich geändert, wenn man über den FC Bayern schreibt: dass man das so oft ohne Uli Hoeneß tut. Wenn man heute über den FC Bayern schreibt, dann hat man oft Kontakt mit Leuten, deren Titel zu Hoeneß' besten Zeiten noch nicht mal erfunden war. Man spricht mit Spindoktoren und solchen, die sich dafür halten, man ruft Medienberater von Spielern an, um dann herauszufinden, dass die Spieler noch einen zweiten Medienberater haben, der vielleicht aber auch nur ein Kumpel ist. So genau weiß man das nicht. Wenn man ein offizielles Interview mit einem Bayern-Spieler führt, bekommt man es manchmal dreifarbig zurück. Die Presseabteilung des Vereins hat dann drin rumautorisiert (sagen wir: in Rot), der Medienberater des Spielers hat Anmerkungen gemacht (grün), und er hat es sicherheitshalber noch dem richtigen Spielerberater geschickt, dem auch noch was aufgefallen ist (blau).
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Damals hat Lizarazu selber Cafés vorgeschlagen, mit ein bisschen Glück sogar am Gärtnerplatz. Er kam vielleicht mal eine halbe Stunde zu spät zum Gespräch, le Training, pardon!, aber er ist dafür auch zweieinhalb Stunden sitzen geblieben, und am Ende wusste man, was er von der Personalpolitik des Vereins hält, welcher Neuzugang besonders gut kicken kann und vielleicht auch, welcher Schiedsrichter ein Depp ist. Man hat das selbstverständlich nicht einfach in die Zeitung hineingeschrieben, man war ja von der vornehmen SZ, und vor allem: Man hätte niemals das Vertrauensverhältnis zum Spieler gefährdet.

Dieses Muster, immerhin, hat die Zeiten überdauert: Ein guter Bayern-Reporter muss immer mehr wissen, als er schreibt. Manchmal ist das ein bisschen schade, man würde ja so gerne verraten, dass ... Geht aber leider nicht. Gebrochenes Vertrauen wächst deutlich langsamer zusammen als ein gebrochener Mittelfuß
[...]
Klar: Früher war mehr Nähe. Ich kann mich erinnern, dass ich in meinen ersten Tagen in diesem Job noch auf die Tartanbahn des Stuttgarter Stadions durfte, eine halbe Stunde vor dem Anpfiff eines Bundesligaspiels, und dann kam der Trainer Magath vorbei und hat einem mit süffisantem Grinsen erläutert, warum der eine Spieler heute spielt oder auch nicht. Und auch im Münchner Olympiastadion (ja, liebe Kinder, da wurde mal Fußball gespielt) kam man nach den Bundesligaspielen in die Nähe des Kabinengangs und konnte die Spieler abfangen, und man war klar im Vorteil, wenn man den Spieler schon vom Gärtnerplatz kannte. Heute gibt es immer noch (wenige) Bayern-Spieler, mit denen man einen Espresso trinken kann (ohne Milch, denn Milch ist für Spieler böse), aber natürlich nur, wenn sich vorher der eine von zwei Medienberatern eingeschaltet hat, der aber vielleicht auch nur ein Kumpel ist.
[...]
Sind die Spieler heute langweiliger als früher? Auch das ist die falsche Frage. Die Spieler haben heute gar keine andere Wahl, als so aufzutreten, wie sie auftreten, sie wissen das ja sehr genau: dass jeder aus dem Zusammenhang gerissene Satz viel mehr ist als nur ein aus dem Zusammenhang gerissener Satz. Das war er vielleicht früher bei Lizarazu, schon bei Lahm war er's nicht mehr so richtig. Schon da liefen die Sätze eine Stunde später über die roten Bänder bei n-tv. Heute ist so ein Satz schneller in den sozialen Medien, als er gesagt ist, und er verändert seine Gestalt mit jedem weiteren Klick. Kein Bayern-Spieler kann heute mehr einfach so sagen: Ich kenn' den Timo Werner noch aus der Jugendnationalmannschaft, super Typ, der Timo. Jeder in der Branche weiß ja, dass viele Bayern-Spieler ihren alten Kumpel gerne in der Mannschaft hätten, und so würde dieser Satz heute nach ein paar Klicks so zusammengefasst: Spieler XY fordert: Timo Werner nach München! Oder der Klassiker: Spieler XY geht auf Bayern-Bosse los. Dann sagt er halt lieber nix, der Spieler XY.
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Alles Heulsusen, die heutigen Profis. Buh, die wollen mich nicht liebhaben, da sag ich lieber gar nichts mehr. Und die Medienberater verdienen sich einen goldenen Arsch.

Wenn man mal ehrlich ist, mit den Trriggerworten (1) Shitstorm, (2) Political Correctness und (3) Cancel Culture lässt sich doch fast jeder Skandal abbügeln. Da kannst Du doch den größten Scheiß labern. Mit der Äußerung: Ich bin ein Opfer von 1 2 oder 3 wird der größte Naziarsch zum armen bedauernswerten Medienopfer. Aber diese Berater kriegen es hin ihren Klienten einzureden, dass ein falsches Wort das Karriereende bedeuten kann.
Zauberhafte Grüße vom
Hexer
100 % Werder