Ich greife mal drei andere Spiele heraus:
WM-Halbfinale Deutschland - Frankreich 1982 (Die Nacht von Sevilla)
Bis heute sehe ich den untröstlichen Uli Stielike nach seinem verschossenen Elfer auf dem Rasen. Die ganze Aufholjagd umsonst? Dabei war es schon vorher Drama pur: Battiston - Schumacher. In der Verlängerung schnell 1:3 zurück und dann doch noch der Ausgleich. Klaus Fischers genialer Fallrückzieher. Im Elferschießen also wieder im Hintertreffen. Vor Spannung hab ich mir vor dem Fernseher fast in die Hosen gemacht. Bin körperlich mitgegangen, wenn Schumacher auf der Linie dem Schützen gegenüber stand. Bin im Zimmer hin und her getigert, wenn der nächste Schütze sich aufmachte. Beide Hände geballt, um dem Leder zum Flug ins Tor zu verhelfen. Und jaaaa, es hatte geholfen, der französische Bock wurde umgestossen. Auch Uli Stielike konnte feiern. Was war das für ein geiler Sieg. Für Frankreich und Battiston natürlich sehr bitter. Ganz klar. Immerhin holte man sich zwei Jahre später bei der EM im eigenen Land ein kleines Trostpflaster. Und Deutschland kannte das umgekehrt bekanntlich auch.
Aus Mexico und das 2x. Beim Halbfinale 1970 gegen Italien war ich noch zu klein. Es muss besonders dramatisch gewesen sein. Hin und her. Wer setzt sich durch? Teilweise ähnlich war es im WM-Finale 1986 zumindest in der Schlussphase. Da griff Deutschland dann ähnlich wie Frankreich 1982 in den Scheißhaustopf. Im Prinzip waren die Argentinier überlegen und führten verdient 2:0. Doch dann machten ausgerechnet die damals nicht fitten Sturmsorgenkinder Rummenigge + Völler noch den Ausgleich. In so einem Fall will man selbstverständlich gewinnen. Also weiter drücken. Und meist ist die Mannschaft im Vorteil, die aufgeholt hat. Wir lagen uns nach Rudis Ausgleichstor mit Freunden in den Armen. Ein Teil stürmte auf die Terasse, um zu feiern. Der andere Teil blieb vorm Fernseher. Kurz darauf ertönten laute ''Nein, nein, neiiiiiiiiiiiiiiiin, stopp ihn!'' Rufe. Doch sie verhinderten Burruchagas Sololauf und Tor nicht. Aus der Traum, der dein treuer Vater.
Da war so eine Leere im Kopf. Nur nach den CL-Finals 1987 + 1999 sowie dem Abstieg St. Paulis aus der Bundesliga 1991 in der Relegation gegen die Stuttgarter Kickers ging es mir ebenso. Bei anderen ''großen Niederlagen'' fiel ich weicher: Nach dem CL-Finale 2012 konnte ich mich an dem unvergesslichen Tag im Augustiner Biergarten trösten. Nach dem Halbfinalaus 2006 an der tollen WM-Stimmung in Deutschland und beim verlorenen HF 2010 an den vorherigen tollen Leistungen der NM. Da war ich nur kurzzeitig enttäuscht. 30 Minuten, dann war es gut. Aber 1986 war einfach nur Leere da. Ganz lange.
26. Mai 2000: St. Pauli - Rot-Weiß Oberhausen
Aufgrund der Tabellensituation braucht St. Pauli einen Sieg, um den Abstieg aus der 2. Liga ganz sicher zu verhindern. Es ist ein einziges Gurkenspiel. Eine Quälerei. Ein Spiel der übelsten Sorte. Angst essen Seele auf. St. Pauli bekommt nix gebacken. Oberhausen macht Mitte der ersten Halbzeit ein Tor. Aufgrund der Ergebnisse in den anderen Stadien wird kurz vor Schluss klar: Mit dem 0:1 steigt man ab. Es muss der Ausgleich her. Unbedingt! Das Team kämpft, aber die Angriffsbemühungen sind an Hilflosigkeit nicht zu überbieten.
Höchstens noch 30 Sekunden sind zu spielen. Goodbye 2. Liga, goodbye Profifußball. Ein letzter langer Ball in den gegnerischen Strafraum. Im Getümmel kommt der Ball zu Ivan Klasnic, der sich irgendwie an den linken Rand des Fünf-Meter-Raums durchtankt und flach nach innen vors Tor flanken kann. Dort steht Marcus Marin und hält seinen Fuß rein. Ausgleich! Tooor, Tooooooor, Toooooooooor! St. Pauli ist Weltmeister. Das Wunder war geschehen. Das Wunder vom Millerntor.
Im Stadion brechen alle Dämme. Ich liege so vielen wildfremden Menschen in den Armen, wie nie zuvor und wie nie danach. Und dann ist das Spiel aus. Es wird gefeiert ohne Ende. Ein Freund von mir sieht, als wir auf dem Rasen stehen, kurzzeitig einen ehemaligen Untermieter, der ihm noch Geld schuldig war. Er verliert ihn aus den Augen. Scheißegal, für den Verein bringt man Opfer. Tränen in den Augen, pure Erleichterung und grenzenlose Freude. Das Bier fließt in Strömen. Ausgerechnet Markus Marin! Der Ex-HSVer, der neun Jahre vorher mit den Stuttgarter Kickers St. Pauli aus der Bundesliga geschossen hatte. Solche Geschichten schreibt nur der Fußball. I werd narrisch!
Vielleicht sollte ich mich in Sentimental72 umbennen?
