Das ist auch eine Geschichte:
"Ich lag in meiner leeren Bude und versuchte, mir das Leben zu nehmen"
Interview: Alex Raack
Ulrich "Uli" Borowka ist ein früherer Bundesligaprofi. Der Verteidiger spielte unter anderem für Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen und kam auf fast 400 Bundesligaspiele. Sechsmal lief er für die Nationalmannschaft auf. Kurz war er als Trainer tätig, nach seiner Karriere wurde er alkoholkrank. Seine Sucht verarbeitete er in der von Alex Raack geschriebenen Biografie "Volle Pulle". Seit 2000 lebt er abstinent, gründete einen Verein für Suchtprävention und hilft Suchtkranken.
ZEIT ONLINE: Herr Borowka, seit mehr als sieben Jahren gibt es Ihren Sucht- und Präventionshilfeverein. Welche Menschen suchen bei Ihnen Hilfe?
Uli Borowka: Da ist alles dabei. Einen typischen Fall hatte ich erst neulich. Ein Mann, mit dem ich vor zwei Jahren Kontakt hatte. "Mir geht es so dreckig, ich bin krank, ich muss in die Klinik", sagte er damals. Vor ein paar Wochen rief er mich wieder an: "Uli, ich bin so was von im Arsch, ich brauche Hilfe!" Einen Tag später hatte ich ihm einen Platz in einer Suchtklinik besorgt. Eine Garantie, dass er seine Sucht auch wirklich besiegt, ist das auch nicht. Die meisten Suchtkranken brauchen sechs oder sieben Anläufe, um es wirklich zu schaffen.
ZEIT ONLINE: Warum ist dieser Weg so schwer?
Borowka: Der Weg eines Süchtigen geht immer nach unten. Da ist es egal, ob man den Führerschein, den Job, die Beziehung oder die Familie verliert. Ich bin dafür das beste Beispiel. Sieben Jahre, nachdem ich mit Werder Bremen den Europapokal gewonnen hatte, lag ich in meiner leeren Bude auf meiner vollgekotzten Matratze und versuchte mir das Leben zu nehmen. Und was die Sache noch schlimmer macht: Ein Suchtkranker zieht in der Regel bis zu drei Personen aus seinem nahen Umfeld mit in die Tiefe.
ZEIT ONLINE: In den vergangenen Jahren haben sich bei Ihnen viele Hundert Menschen gemeldet: Erfolgreiche Sportler, Prominente, Otto Normalverbraucher. Warum vertrauen sich die Menschen Ihnen an?
Borowka: Weil ich sehr offensiv mit meiner eigenen Krankheit umgehe und so offen und ehrlich darüber spreche wie sonst nur wenige. Ich glaube, die Menschen spüren, dass ich zwar kein einfacher Charakter bin, dafür aber gerade und korrekt und nie jemanden in die Pfanne hauen würde. Schon gar nicht einen anderen Suchtkranken.
ZEIT ONLINE: Und welche Ratschläge geben Sie den Menschen bei den ersten Gesprächen mit auf den Weg?
Borowka: Die Süchte sind zwar immer gleich, die Situationen aber sehr verschieden. Es gibt kein Hilfeschema F. Ich verstehe mich in erste Linie als Vermittler zwischen den Kranken und den professionellen Anlaufstellen. Was ich immer wissen will: Wie alt ist der oder die Süchtige, wie ist der Familienstand, wie lange existiert die Sucht schon, welchem Job geht sie oder er nach? Dabei erfährt man schon eine ganze Menge. Viele brauchen auch einfach jemanden, der ihnen zuhört und nicht wertet, weil er die ganze Scheiße ja schon selbst durchgemacht hat.
ZEIT ONLINE: Hat sich beim Thema Sucht etwas geändert, seit Sie in der Prävention tätig sind?
Borowka: Leider ja. Es ist alles nur noch schlimmer geworden. Offiziell haben wir in Deutschland immer noch 1,5 Millionen Alkoholiker, aber die Zahl ist seit 20 Jahren unverändert. Ich schätze die korrekte Zahl auf acht Millionen. Und das sind nur die Alkoholkranken. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der jeder seine Quote zu erfüllen hat. Drogenmissbrauch ist meiner Meinung nach nichts anderes als ein Ventil. Gleichzeitig werden Suchtkranke noch immer stigmatisiert. Ich habe das selbst erst vor Kurzem erlebt: Es gibt einen Grund, warum ich als zweifacher DFB-Pokalsieger nicht auf dem Berliner Walk of Fame beziehungsweise der Wall of Fame zu sehen bin, auf dem frühere Pokalhelden vor dem Olympiastadion gewürdigt werden. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass einer der Entscheider damals gesagt hat, dass man doch keinen Säufer ehren könne.
ZEIT ONLINE: Kürzlich haben Sie den Fall Horst-Dieter Höttges öffentlich gemacht. Ihr Einsatz hat dem Bremer Ehrenspielführer das Leben gerettet.
Borowka: Horst-Dieter war schon zu meinen aktiven Zeiten eine Galionsfigur bei Werder und schon damals trank er zu viel. Vor drei Jahren rief mich sein Sohn René an: "Uli, es ist fünf nach zwölf, wir kriegen es nicht mehr hin mit Papa. Wir haben es alles versucht, aber der will sich nicht helfen lassen." Kurz darauf rief ich Horst-Dieter an. Vormittags, weil er da noch relativ nüchtern und aufnahmefähig war. Mir war klar, dass er sein Problem leugnen würde, das macht jeder Süchtige. Und ich wusste, wie er tickt. Wir Profifußballer glauben doch alle, knallharte Typen zu sein und lassen uns noch 50 Jahre später für unsere Heldentaten feiern. Horst musste ich bei der Ehre packen. Ich sagte ihm: "Wie sollen dich die Leute in Erinnerung behalten? Sollen die mit ihren Kindern vor deinem Denkmal stehen und ihnen erzählen, dass du mal der beste Verteidiger Deutschlands warst? Oder sollen sie sich an den Theken erzählen, wie du vollgesoffen in der Gosse lagst?"
ZEIT ONLINE: Wie hat Höttges reagiert?
Borowka: Als ich ihn leise schluchzen hörte, wusste ich, dass ich einen Nerv getroffen hatte. "Du hast ja recht, Uli", sagte er, "aber ich krieg doch keinen Platz in der Klinik …" Zu dem Zeitpunkt hatte ich gemeinsam mit seinem Sohn bereits alles organisiert. Ich wusste, dass es in meiner alten Klinik in Bad Fredeburg eine sehr gute Seniorengruppe gab und hatte alte Kontakte spielen lassen. "Melde dich, wenn du deinen Vater abgeliefert hast", sagte ich René. Heute ist Horst-Dieter trocken und lebt in einer wunderbaren Bremer Pflegeeinrichtung, die sich mit speziell mit Alkoholdemenz auskennt. Die Sauferei hat ihre Spuren hinterlassen, aber er hat jetzt eine Lebensqualität, die er so vorher über Jahrzehnte nicht kannte. Beim Kampf gegen die Sucht muss man sich über jeden kleinen Schritt freuen.
ZEIT ONLINE: Höttges ist nicht der einzige Profisportler, dem Sie helfen konnten.
Borowka: Ich habe einen ehemaligen Bundesligaspieler begleitet, der drei verschiedene Süchte auf einmal hat und erst nach 18 Kaltentzügen trocken geworden ist. Sein Leben hat er trotzdem nicht in den Griff bekommen. Darunter leidet natürlich auch sein Job bei einem aktuellen Bundesligisten. Da weiß jeder, dass er ein Säufer ist. Nur er tut so, als wenn keiner eine Ahnung hätte. Er steht sich nur selbst im Weg.
ZEIT ONLINE: Ein positiveres Beispiel ist der Fall eines Berliner Eishockeyspielers.
Borowka: Der ist meiner Frau und mir von der ersten Minute richtig ans Herz gewachsen. Wir haben ihn bei uns wohnen lassen, ich habe ihm im Garten Steaks gegrillt, während wir einen Schlachtplan erstellten. Weil zwischen seinem Kaltentzug und dem Beginn der Therapie eine Woche lag, habe ich ihn Tag und Nacht nicht aus den Augen gelassen, er hat mich sogar bei meinen Vorträgen quer durch Deutschland begleitet. Bei seinem Comeback saß ich mit meiner Familie hinter der Bande und musste heulen wie ein Schlosshund.
ZEIT ONLINE: Wäre so eine Rückkehr auch im Fußball möglich?
Borowka: Vermutlich nicht. Wer im Fußball öffentlich über seine Schwächen oder gar seine Sucht spricht, ist verbrannt. Der Fußball und ganz besonders der DFB sind lange nicht so offen und tolerant, wie sie vielleicht selbst denken. Im Falle des Eishockeyspielers hat sich sein Arbeitgeber sensationell verhalten. Die haben ihren Angestellten nicht als Kapitalanlage betrachtet, sondern als Menschen, der Hilfe brauchte.
ZEIT ONLINE: Hat sich Werder Bremen auch so sensationell verhalten?
Borowka: Nein. In der Vergangenheit bin ich mit den Verantwortlichen sehr hart ins Gericht gegangen, aber inzwischen weiß ich aus eigener Erfahrung, dass sich die meisten Menschen in einer verantwortlichen Position enorm schwer damit tun, vernünftig und angemessen mit Suchtkranken umzugehen. Im Fußball sind die meisten schlichtweg überfordert, selbst die im Verein angestellten Psychologen. Meistens rufen die mich an, weil sie nicht weiterwissen oder eine Frage haben. Die Situation würde ich gerne ändern.
ZEIT ONLINE: Wie?
Borowka: In jedem deutschen Proficlub müsste der Kontakt zu einer Beratungsstelle hinterlegt sein, wo sich die Sportler anonym melden können. Gerade Fußballer wissen doch, dass sie vermutlich rausgeschmissen werden, wenn sie sich Trainern, Mitspielern oder Funktionären anvertrauen. Das Feedback auf meine Biografie Volle Pulle war so enorm und so vielfältig, die Erfahrungen in den vergangenen Jahren so eindrücklich, dass ich davon gerne erzählen würde. Deshalb will ich ein zweites Buch schreiben. Sucht und ganz besonders Alkoholismus ist in Deutschland noch immer ein großes Tabuthema und ich würde gerne meinen Teil dazu beitragen, dass sich das ändert. Wir leben in einer suchtkranken Gesellschaft. Und Süchtige brauchen Hilfe.
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