Was, wenn er nicht geht?

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erpie
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Was, wenn er nicht geht?

Beitrag von erpie »

Oha aber ob er und sein Team den Verfassungszusatz bewußt so versuchen einzusetzen? Das wird alles immer mehr zu einer Farce und dem Bankrott der US-Demokratie!

Donald Trump: Was, wenn er nicht geht?
Von Heinrich Wefing

Seit Monaten flirtet Donald Trump öffentlich mit dem Gedanken, eine mögliche Wahlniederlage im November nicht anzuerkennen und einfach im Amt zu bleiben. Nur Prahlerei und Provokation? Mag sein. Aber tatsächlich gibt es einen Weg, wie Trump Präsident bleiben könnte, selbst wenn er die Wahl verliert.

Einen völlig legalen, historisch erprobten Weg. Es braucht dafür keinen Putsch, keine massive Wahlfälschung. Es steht ein Verfahren bereit, das die US-Verfassung für besonders knappe oder unübersichtliche Wahlergebnisse vorsieht.

Ein Gruselmärchen? Hoffentlich. Aber keineswegs sicher.

Diese Möglichkeit lässt viele von Trumps scheinbar absurden Tweets in einem neuen Licht erscheinen. Vergangene Woche twitterte er, vielleicht sei es besser, die Wahl zu verschieben. Am Montagabend kündigte er an, die Möglichkeit der Briefwahl eventuell einzuschränken oder gleich ganz zu verbieten. Und permanent attackiert er das Wahlsystem: Die Wahl im November könne die "korrupteste in der Geschichte unseres Landes werden", behauptete Trump Ende Juli.

Noch sind es drei Monate bis zur Wahl, noch ist nichts entschieden, fast alles scheint möglich, ein Erdrutschsieg für Joe Biden ebenso wie eine Implosion des manchmal greisenhaft wirkenden Kandidaten der Demokraten. Oder ein Terroranschlag; eine Erkrankung des Herausforderers; ein katastrophaler Aussetzer während einer der geplanten Fernsehdebatten. Oder was auch immer. Der Ausgang der Wahl ist offen, auch wenn die Umfragen gerade gut aussehen für Biden.

Noch ist deshalb auch der Mechanismus, mit dessen Hilfe Trump im Weißen Haus bleiben könnte, nur eine juristische Option, tief verborgen im Dickicht der US-Verfassung, im 12. Zusatzartikel, der 1804 verabschiedet wurde. Historisch spielte diese Regelung bislang nur ein einziges Mal eine Rolle. Auch den meisten US-Bürgern dürfte sie unbekannt sein; noch wird sie vor allem von Verfassungsrechtlern und Politstrategen diskutiert. Aber wenn man sie einmal entdeckt hat, liest man den Wahlkampf unweigerlich anders.

Sagen wir also: Es ist ein Gedankenexperiment. Ein Szenario, wie die Wahl in ihr Gegenteil verkehrt werden könnte.

Um das Szenario zu verstehen, muss man sich kurz daran erinnern, dass der US-Präsident nicht direkt vom Volk gewählt wird, sondern indirekt, von einem Wahlmännergremium, dem sogenannten Electoral College, einer historischen, antiquierten Institution, deren einzige Aufgabe darin besteht, das Staatsoberhaupt zu bestimmen.
Normalerweise ist die Abstimmung der Wahlfrauen und -männer bloße Formsache

Die Wahlmänner und Wahlfrauen werden von den Bundesstaaten benannt, und zwar nach dem Prinzip "winner takes all": Der Präsidentschaftskandidat, der in einem Bundesstaat die Mehrheit der Wählerstimmen gewinnt, und sei es mit minimalem Vorsprung, erhält alle Wahlmänner des Staates, der Verlierer geht leer aus.
Erforderlich ist eine absolute Mehrheit im Electoral College

Die Präsidentschaftswahl findet in diesem Jahr am 3. November statt. Am 14. Dezember, so schreibt es die Verfassung vor, kommen die electors in den Bundesstaaten zusammen und geben ihre Stimme ab, am 6. Januar 2021 werden diese Stimmen in einer Zeremonie im Kongress in Washington offiziell ausgezählt. Normalerweise ist die Arbeit des Electoral College bloße Formsache, frei von Spannung, konstitutionelle Bürokratie. Im Januar 2013 zum Beispiel, bei der Wiederwahl Barack Obamas, dauerte die Zeremonie in Washington gerade mal 23 Minuten.

In diesem Wahlherbst aber, inmitten der Pandemie, angesichts einer beispiellosen Rezession und politischen Polarisierung, könnte es sein, dass wenig normal verläuft. Dafür steht zu viel auf dem Spiel, für beide Seiten.

Präsident wird, wer mindestens 270 Wahlmännerstimmen gewinnt; erforderlich ist eine absolute Mehrheit im Electoral College. Der bislang sanft schlummernde 12. Verfassungszusatz regelt nun die Frage, was passiert, wenn keiner der Kandidaten diese absolute Mehrheit erzielt, wenn also, zum Beispiel, 265 Wahlmänner für Biden stimmen und 262 für Trump (oder umgekehrt).

Kann das überhaupt passieren? Durchaus: theoretisch etwa, wenn es mehr als nur zwei Kandidaten gibt, was bis zur Herausbildung des Zweiparteiensystems in den USA gelegentlich vorkam; oder, und hier sitzt der heute politisch brisante Sprengmechanismus: wenn in einem oder mehreren Bundesstaaten Streit darüber entsteht, wer die Wahl gewonnen hat, und deshalb Konfusion herrscht, für wen die electors stimmen sollen. Im Jahr 1960 ernannte der Staat Hawaii tatsächlich einmal zwei Gruppen von electors mit Stimmen für unterschiedliche Kandidaten. Ein solches Chaos könnte Trump in die Hände spielen.

Wenn das Wahlmännergremium keinen Präsidenten wählt, dann, so sagt es der 12. Zusatzartikel der Verfassung, geht die Entscheidungsgewalt auf das Parlament über, und zwar noch am selben Tag, das wäre also der 6. Januar 2021. Der US-Präsident wird dann vom Repräsentantenhaus gewählt, der größeren der beiden Kammern des US-Kongresses. Im Grunde ist das sogar sinnvoll, hat doch das direkt gewählte Parlament nach dem Volk selbst die höchste demokratische Legitimation.

Ein einziges Mal, 1824, ist diese Vorschrift bislang angewandt worden, damals wurde der heute weithin vergessene John Quincy Adams zum Präsidenten gewählt. Vielleicht ist es jetzt, fast 200 Jahre später, wieder so weit.

Das Repräsentantenhaus hat 435 Abgeordnete, derzeit 235 Demokraten und 199 Republikaner, ein Sitz ist vakant. Eigentlich also eine sichere Sache für Biden, sollte es wirklich so weit kommen, dass der Präsident im Parlament gewählt wird – wäre da nicht eine weitere Klausel im 12. Zusatz, die alles auf den Kopf stellen könnte.

Die Verfassung schreibt nämlich vor, dass die Abgeordneten des Repräsentantenhauses nicht individuell abstimmen, sondern blockweise, nach Staaten. Jeder der 50 US-Bundesstaaten hat dann nur eine einzige Stimme, Kalifornien mit seinen knapp 40 Millionen Einwohnern darf genauso nur eine Stimme abgeben wie das winzige Delaware mit gerade einmal einer Million Bürgerinnen und Bürgern. Das ist zutiefst ungerecht, nur historisch zu erklären, aber bis zur Wahl im November nicht mehr zu ändern. Und darin könnte Trumps Chance liegen.
Trump braucht Durcheinander, Unregelmäßigkeiten, Fehler bei den Wahlen

Denn sortiert man alle Abgeordneten in "Landesgruppen" und zählt dann nach "republikanischen" und "demokratischen" Staaten durch, hätte Trump nach derzeitigem Stand plötzlich eine Mehrheit von 26 zu 23 Stimmen (in einem Staat herrscht Gleichstand) – und wäre wiedergewählt. Völlig legal, nach Wortlaut und Geist der Verfassung.

Mag sein, dass am Ende alles glattgeht, unproblematisch, gemäß den alten demokratischen Traditionen der USA. Kann sein, dass ein besiegter Trump seine Niederlage sofort einräumt und den siegreichen Joe Biden zu einem noblen handshake ins Oval Office einlädt.

Aber wie wahrscheinlich klingt das? Angesichts von Trumps Neigung, sich seine Regeln zurechtzubiegen? Zumal bei einem extrem knappen Ergebnis, das vielleicht nur an ein paar Hundert oder Tausend Stimmen hängt?

Was also brauchte Trump, um den Mechanismus des 12. Zusatzartikels auslösen zu können und am Ende vom Repräsentantenhaus gewählt zu werden, selbst wenn er die Wahl an den Urnen verlieren sollte?

Er brauchte Durcheinander, Unregelmäßigkeiten, Fehler bei den Wahlen am 3. November. Er brauchte Streit in einem, noch besser in mehreren Bundesstaaten über die Wahlergebnisse und endlose Auseinandersetzungen vor Gericht, auf wen die Wahlmänner eines Staates entfallen. Er brauchte Chaos, Aufwallung, Kompromisslosigkeit. Nichts beherrscht Trump besser als das.

Und die Voraussetzungen dafür sind günstig wie nie. Das Wahljahr 2020 hat mit dem Totalversagen einer App bei der Vorwahl der Demokraten in Iowa begonnen – und von da an wurde es schlimmer. Im März versagten die Wahlmaschinen in Kalifornien. Bis Mai verschoben 16 Bundesstaaten wegen der Corona-Pandemie ihre Vorwahlen oder stellten komplett auf Briefwahl um. Und im Juni versank die Vorwahl in Georgia weithin in Chaos, manche Wähler mussten bis morgens um ein Uhr warten, um ihre Stimme abgeben zu können.

Präsidentschaftswahlen in Zeiten einer Pandemie hat es noch nie gegeben. Was alles schiefgehen kann, lässt sich kaum ausmalen. Schon jetzt ist absehbar, dass vielerorts Wahlhelfer fehlen werden, weil gerade Senioren fürchten, sich in den Wahllokalen anzustecken – und die meisten Wahlhelfer sind Senioren. Bei der Vorwahl in Maine blieb ein Drittel der erfahrenen Wahlhelfer zu Hause; in der Stadt Milwaukee konnten wegen des Mangels an Freiwilligen nur fünf Wahllokale geöffnet werden statt 180 wie sonst. Hastig stellen daher derzeit mehrere Bundesstaaten auf Briefwahl um, nur Wochen vor dem Wahltag, mit unabsehbaren Risiken wegen schlechter Vorbereitung.

Geheimdienstexperten halten zudem Versuche fremder Mächte – China, Russland, Iran oder Nordkorea – nicht für ausgeschlossen, in die elektronischen US-Wahlsysteme einzudringen oder mindestens den Anschein zu erwecken, es habe Manipulationen gegeben. Der Verfassungsrechtler Lawrence Douglas hat ein ganzes Buch geschrieben über mögliche Attacken auf den Wahlakt, das Allerheiligste der Demokratie, und die potenziell verheerenden Folgen.
Präsident sät ununterbrochen Zweifel am amerikanischen Wahlsystem

Während die Wahl derart unter Stress zu kommen droht, sät der Präsident schier ununterbrochen Zweifel am amerikanischen Wahlsystem, twittert über angeblich drohenden massenhaften Betrug bei der Briefwahl – ohne alle Belege. Nach einer Zählung der Washington Post attackierte Trump die Briefwahl allein in diesem Jahr bereits fünfzigmal. Und nicht nur Trump betreibt diese Kampagne zur Delegitimierung der Wahl, sondern auch William Barr, immerhin der US-Justizminister.
Die Republikaner haben schon 20 Millionen Dollar für Gerichtskosten eingeplant

Das alles folgt nicht notwendig einem großen Plan, einer perfiden Strategie, um in jedem Fall den Artikel 12 in Gang zu setzen. Es sind auch andere Szenarios für eine Verfassungskrise denkbar, bei denen der Senat ins Spiel käme oder Vizepräsident Mike Pence. Zweifel an den Wahlergebnissen zu streuen kann viele Vorteile haben. Es kann potenzielle Wähler abschrecken. Und jede Störung, jede Unregelmäßigkeit kann Anlass zu wütenden Protesten und langwierigen juristischen Klagen geben. Schon einmal, im Jahr 2000, beim Wahldebakel in Florida, als es zu endlosem Streit über die Gültigkeit einzelner Stimmkarten kam, hat das Oberste Gericht in Washington am Ende dem republikanischen Kandidaten zur Präsidentschaft verholfen, George W. Bush. Seither ist der Supreme Court eher noch konservativer geworden.

Beide Parteien treffen längst ihre Vorbereitungen für den Wahltag und die möglicherweise hässlichen Wochen danach. Die Republikanische Partei hat angekündigt, mindestens 50.000 "Wahlbeobachter" loszuschicken, um "Betrug" aufzuspüren, und sie hat schon einmal 20 Millionen Dollar für Gerichtskosten eingeplant. Das Team Biden verkündete im Gegenzug, es habe 600 Juristen um sich geschart, um gegen vermeintliche oder tatsächliche "Schikanen" vorzugehen. Ein Fest für Anwälte, ein Albtraum für die Demokratie.

Seit der Gründung der Vereinigten Staaten 1776 hat das US-Wahlsystem funktioniert, sogar mitten im Krieg. Droht jetzt die Kernschmelze?

Tatsächlich kann keine Institution, kein System, kein Verfahren funktionieren, wenn sich die Beteiligten nicht über ein paar grundlegende Regeln einig sind: zuallererst, dass die Regeln respektiert werden. Dass derjenige, der eine Wahl verliert, dies auch zügig anerkennt und sein Amt räumt. Dass man den Gegner zumindest potenziell als den eigenen Nachfolger im Amt ansieht und nicht als Feind, den es um jeden Preis zu verhindern gilt. Dass man sich als Bürger betrachtet, nicht als Teil eines politischen Stammes, der gegen einen anderen Stamm ums Überleben kämpft.

In ruhigen Zeiten sind das alles Selbstverständlichkeiten, die nicht weiter erörtert werden müssen. Auch im Grundgesetz steht ja nirgends explizit, dass ein Bundeskanzler, der abgewählt wird, sein Amt räumen und aus dem Kanzleramt ausziehen muss – es ist eine stillschweigende Übereinkunft, ein Ausdruck demokratischer Kultur. Nur sind die USA in diesem Jahr alles andere als ruhig, nichts ist mehr selbstverständlich.

Wie die Wahl ausgeht, ist offen. Was nach der Wahl passiert, auch. Womöglich sollte man sich vorläufig darauf einstellen, dass es eine Weile dauern könnte, bis es ein Ergebnis gibt. Weil es Tage, eventuell Wochen braucht, bis alle Briefwahlstimmen ausgezählt sind. Und weil es eben unter Umständen nicht nur auf die Wählerstimmen ankommt.
https://www.zeit.de/2020/33/donald-trum ... ettansicht
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
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Heinz B.
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Re: Was, wenn er nicht geht?

Beitrag von Heinz B. »

Ungelegte Eier. Alles nur Spekulationen. Sommerloch?
Ich diskutiere nicht, ich erkläre lediglich, warum ich Recht habe. :wink:
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Linden
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Re: Was, wenn er nicht geht?

Beitrag von Linden »

Durchaus realistisches Szenario. Trump sagt schon seit einer ganzen Weile, dass das die manipulierteste Wahl aller Zeiten wird. "Witzig" wäre es wenn er gewinnt...
Machen wir uns nix vor, die Menschheit ist grundsätzlich einfach krass bescheuert.

Ceterum censeo ruborem taurum esse delendam.

Tod und Hass dem Putinregime
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Atlan
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Re: Was, wenn er nicht geht?

Beitrag von Atlan »

Linden hat geschrieben: Freitag 7. August 2020, 23:17 Durchaus realistisches Szenario. Trump sagt schon seit einer ganzen Weile, dass das die manipulierteste Wahl aller Zeiten wird. "Witzig" wäre es wenn er gewinnt...
:thumbup:
Grün/Weiße Grüße :wave:
Alle wollen zurück zur Natur. Aber keiner zu Fuß.
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Hexer_h1
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Re: Was, wenn er nicht geht?

Beitrag von Hexer_h1 »

erpie hat geschrieben: Freitag 7. August 2020, 11:13 https://www.zeit.de/2020/33/donald-trum ... ettansicht
Es wird dann schon zu prüfen sein, ob das Ganze wirklich verfassungskonform ist. Wenn das Repräsentantenhaus eines Staates sagen wir 30 Mitglieder hat, aber mit nur einer Stimme abgestimmt wird (die sogar anders als die Mehrheit sein könnte) ist fraglich, ob das dem Willen der Verfassung entspricht.

In letzter Zeit hat der Supreme Court ja sogar gegen den ausdrücklichen Willen von Trump entschieden.

Schlimm ist es meines Erachtens vor allem, dass man dem Präsidenten tatsächlich zutraut, das Wahlsystem austricksen zu wollen. Und das sowohl seitens von Republikanern wie Demokraten. Wobei viele Reps das Ganze tatsächlich wohl noch ganz witzig finden würden. Das ist alles wirklich unfassbar.
Zauberhafte Grüße vom
Hexer
100 % Werder