Zeit hat geschrieben:Lankesh – die sofort starb – sah ihren Leitartikel nie in gedruckter Form.
Der Mord an Lankesh erschütterte bald ganz Indien. Hunderte Trauernde trugen auf ihrer Beerdigung Schilder mit der Aufschrift "Ich bin auch Gauri". Einige Jahre später identifizierte die Polizei 18 mutmaßliche Täter und verhaftete 17 von ihnen. Alle standen entweder direkt oder indirekt mit einer Organisation namens Sanatan Sanstha in Verbindung, die als hindunationalistische Sekte gilt. Oder mit anderen religiösen Randgruppen, etwa mit einem Ableger dieser Sekte. Der Polizei zufolge hatten die Attentäter den Mord über ein Jahr lang geplant, sich Waffen beschafft, Auftragskiller ausgebildet und Lankeshs Tagesablauf ausgekundschaftet. Auf Fragen zu diesen Vorgängen antwortete ein Vertreter der Organisation Sanatan Sanstha, dass es unangemessen wäre, sich zu solchen Fragen zu äußern, da "der Fall noch nicht abgeschlossen ist". Aktuell läuft noch ein Gerichtsverfahren.
Das Journalistenkonsortium Forbidden Stories, das die Arbeit bedrohter, inhaftierter oder ermordeter Journalisten fortsetzt, hat Lankeshs unvollendetes Werk weiterverfolgt. Ausgehend von ihrer Überzeugung – dass Desinformation mittlerweile industriell und als Waffe genutzt wird – schlossen sich bei Forbidden Stories etwa 100 Journalistinnen und Journalisten von 30 Medien zusammen, um im Rahmen des Storykillers-Projekts zum globalen Markt für Desinformationen zu recherchieren. Von Indien über Südamerika bis ins Herz Europas legten die Beteiligten nach und nach einen wachsenden und unregulierten Markt offen, der von kleinen Fake-News-Verbreitern bis hin zu multinationalen Söldnertruppen reicht, die Desinformationskampagnen verkaufen, mit dem Ziel, Demokratien zu untergraben.
Heute, fünf Jahre nach dem Mord an Lankesh, konnte Forbidden Stories Ermittlungsakten über ihren Fall einsehen, mit der örtlichen Polizei und Anwälten sprechen und einer bislang unbekannten Spur folgen: der eines viralen YouTube-Videos von Lankesh aus dem Jahr 2012, das sich über die sozialen Medien verbreitete und dann zu denen gelangte, die es später als Rechtfertigung für ihre mutmaßliche Ermordung nutzten.
Eine unbequeme Journalistin
Lankesh gilt heute als überragende Figur in Bengaluru. 2005 gründete sie das wöchentlich erscheinende Magazin Gauri Lankesh Patrike. In Leitartikeln und Reportagen aus abgelegenen Regionen Karnatakas, ihrem Heimatbundesstaat, forderte das Magazin das Establishment des Bundesstaates heraus und wetterte gegen den Aufstieg rechtsextremer Hindu-Nationalisten. Das Blatt recherchierte zu illegalem Bergbau in Nord-Karnataka, zu Korruption und religiöser Polarisierung. Der Hauptgegner des Magazins war jedoch die Partei BJP.
Der Anwalt BT Venkatesh schmunzelt, wenn er in seinem Büro abseits der Hauptstraße von Bengaluru an die unzähligen Male denkt, bei denen er Lankesh vor Gericht vertrat. "Sie feuerte in jede Ecke", erinnert sich Venkatesh. "Ein Gangster zettelte eine Klage gegen sie an. Ein Politiker. Einige Geschäftsleute. Sie nahm jeden ins Visier, der korrupt war."
Selbst als die juristischen Drohungen zunahmen, veröffentlichte sie weiterhin vernichtende Kritiken über die Regierungspartei – ebenso wie über Vertreter der Opposition und über korrupte Eliten. "Was sie getan hat, war außergewöhnlich. Ihr Mut, ihre Entschlossenheit, die Art, wie sie ihr Magazin betrachtete. In nur zwei Jahren hat sie es komplett umgekrempelt", sagt Venkatesh.
So wie sich Lankesh veränderte, veränderte sich auch Indien. Mitte der Zehnerjahre entwickelten sich die hinduistischen Nationalisten, über die Lankesh geschrieben hatte, zur Volkspartei. Die Wahl von Narendra Modi zum Premierminister im Jahr 2014 katapultierte die BJP an die Macht, auch mithilfe eines Netzwerks von sogennanten IT-Zellen, die positive Nachrichten über die BJP verbreiteten und Kritikerinnen und Kritiker angriffen – darunter Gauri Lankesh.
Solche IT-Zellen, erklärt Joyojeet Pal, der an der University of Michigan zu Desinformation forscht, seien wie eine Pyramide strukturiert: mit der Parteiführung an der Spitze und einem Netzwerk von Influencern in der Mitte und unten. Die unterste Schicht spiele eine Schlüsselrolle bei der Erstellung und Verbreitung von Narrativen. Gleichzeitig halte sie Abstand zur Spitze, damit die Führung jegliche Beteiligung daran glaubhaft leugnen kann, falls ihre digitalen Fußsoldaten zu weit gehen.
"Es werden der Charakter oder die Motive einer Person verunglimpft, je nachdem, um wen es sich handelt und zu welchen Themen die Person in der Vergangenheit gearbeitet hat, und die Diskreditierung geschieht dann durch diese Assoziierung", sagt Pal. Dies habe eine "abschreckende Wirkung auf Journalisten, die sich dann nicht mehr im Netz exponieren wollen".
Freunde von Lankesh erzählen, dass sie am Ende ihres Lebens wirkte, als gehe es ihr nicht gut: Ihre Zeitung verlor Abonnements und machte Schulden. Sie selbst war nahezu dauerhaft das Ziel von Onlineattacken durch rechtsextreme BJP-nahe Netzwerke geworden. Die Zahl der Angriffe nahm zu, wenn Lankesh eine Rede hielt oder persönliche Fotos ins Netz stellte. Rechtsextreme Aktivisten nutzten die Bilder, um sie als Frau mit loser sexueller Moral darzustellen. Die Rufmordkampagne verschärfte sich gegen Ende ihres Lebens, als negative Posts über sie auf populären rechten Facebook-Seiten auftauchten.
Ende 2016, etwa ein Jahr vor ihrem Tod, trendete ihr Name negativ auf Twitter, nachdem sie wegen Verleumdung verurteilt und gegen Kaution freigelassen worden war. Ein Artikel in ihrem Magazin hatte BJP-Funktionären Betrug vorgeworfen, das Gericht hatte die Vorwürfe als unbelegt angesehen. Auf Social Media bezeichneten viele Lankesh daraufhin als Kommunistin, Maoistin oder "presstitute", ein englisches Kofferwort aus "Presse" und "Prostituierte". Die Plattform Postcard News bezeichnete die Lankesh als "bekannte Hindu-Hasserin" und verlinkte ein YouTube-Video einer Rede, die Lankesh 2012 gehalten hatte. Auf die Posts folgten oft wütende Kommentare. "Hängt sie auf", schrieb ein Facebook-Nutzer.
Lankesh gab sich unbeeindruckt vom Ausmaß der Angriffe und forderte Freunde und Kolleginnen oft auf, Onlinebedrohungen nicht ernst zu nehmen. Onlinetrolling sei "das Letzte, worüber du dir Sorgen machen solltest", sagte Lankesh einige Tage vor ihrer Ermordung, erinnerte sich die Investigativjournalistin Rana Ayyub. Lankeshs Schwester fügte hinzu: "Ich wusste nicht, wie schlimm es war."
Doch in den letzten Monaten ihres Lebens installierte Lankesh – auf den Rat eines Kollegen – widerwillig eine Überwachungskamera in ihrem Haus. Freunde drängten sie zudem, einen Sicherheitsdienst einzustellen. Doch Lankesh hielt das nicht für nötig.
Etwa zu dieser Zeit dachten Lankesh und ihre Kolleginnen darüber nach, ein Factcheckingprojekt zu starten. Es sollte virale Gerüchte mit einem dezentralen Netz von WhatsApp-Gruppen kontern. In den Tagen vor ihrem Tod teilte Lankesh geradezu zwanghaft Facktenchecks auf ihrem persönlichen Twitter-Profil.
Ihr letzter Artikel, so Kollegen und Familie, sei aus einer obsessiven Suche nach der Wahrheit entstanden – aber auch aus dem Eingeständnis eines Fehlurteils. In dem Artikel gab Lankesh zu, versehentlich ein manipuliertes Bild auf Facebook geteilt zu haben. Das Foto schien eine große Kundgebung für die Oppositionspartei zu zeigen, war jedoch mit Photoshop bearbeitet worden, um die Menschenmenge größer erscheinen zu lassen, wie Faktenprüfer später enthüllten. "Es war nicht meine Absicht, innerhalb der Community Aufruhr oder Propaganda anzuzetteln", schrieb sie. "Ich wollte zeigen, dass Menschen gegen faschistische Kräfte zusammenkommen." Sie schloss mit einem Aufruf zum Handeln: "Ich ziehe meinen Hut vor allen, die Fake News aufdecken. Ich wünschte, es gäbe mehr von ihnen."
Die vielköpfige Hydra
An einem typischen Wochentag im April 2022 erfüllt das Klappern von Schreibmaschinen ein kleines Büro im Zentrum von Bengaluru. Hier, in der Redaktion von Naanu Gauri – auf Deutsch: "Ich bin Gauri" – arbeiten etwa zehn Journalistinnen und Journalisten unter einem großen Foto der ermordeten Kollegin.
Nach ihrem Tod gründeten Kolleginnen und Freunde von Gauri Lankesh den Gauri Media Trust und Naanu Gauri, ein unabhängiges Onlinemedium. Heute recherchiert das Team zu aktuellen Themen und factcheckt täglich mehrere Falschmeldungen. Auch wenn sie Mühe haben, mit der Flut von Desinformationen Schritt zu halten.
Mahesh Vikram Hegde, der Gründer der Onlinezeitung Postcard News, die Desinformation über Lankesh verbreitet hatte, rückte unterdessen noch näher an die BJP heran, das zeigen Recherchen von Forbidden Stories. So gründete er zum Beispiel ein Unternehmen mit, in dem ein aktiver BJP-Berater Direktor ist. Auf Fragen dazu wollte er im Rahmen dieser Recherche nicht antworten.
Lange vor Lankeshs Ermordung hatte sich in Indien ein Markt für Propagandadienstleistungen etabliert. Ein Unternehmen bot etwa "Informationswaffen" an, um Suchmaschinen zu "überschwemmen" und aktuelle Ereignisse massenhaft zu "manipulieren" – ein Beweis dafür, dass die Welt, die Lankesh in ihrem Artikel beschrieben hat, tatsächlich existiert. Viele Experten beschreiben diese Netzwerke als Hydra – immer neue Köpfe wachsen nach, sobald einer abgeschlagen wird.
Es habe sich oft angefühlt, als stünde Lankesh so einer hydraähnlichen Struktur gegenüber, erinnert sich ihre Schwester Kavitha. "Es ist nicht nur eine Organisation. Es sickert über viele, viele Organisationen ein", sagt sie. "Vielleicht ist eine davon gleich nebenan."
Ein Opfer von Desinformation
Im Juli 2022 öffneten sich die Türen des Zivil- und Sitzungsgerichts von Bengaluru für ein kleines Publikum von Anwälten und Journalisten. 17 Verdächtige, fast alle mit Verbindungen zu hindunationalistischen Gruppen, mussten sich wegen des Mordes an Lankesh vor Gericht verantworten. Der 18. mutmaßliche Täter ist flüchtig.
Die Mörder von Gauri Lankesh, zu dem Schluss sind die Ermittler gekommen, waren Teil eines "organisierten Verbrechersyndikats", das in allen Bundesstaaten Südindiens operierte. Dem Syndikat werden mehrere aufsehenerregende Bombenanschläge in Goa Anfang der Nullerjahre vorgeworfen. Jetzt gibt es Hinweise, dass sie neben Gauri Lankesh auch drei weitere bekannte Intellektuelle ermordet haben könnten.
Der mutmaßliche Drahtzieher des Mordes, Amol Kale, warb bei religiösen Versammlungen rechte Aktivisten an und bildete sie zu Killern aus. Parashuram Waghmare, wegen seiner kompakten Statur als "Builder" bekannt, war der mutmaßliche Schütze.
Laut den Ermittlungsakten indoktrinierte Kale die angeheuerten Söldner monatelang – durch Meditation, Waffentraining, Religionsunterricht. Sie mussten Lankeshs Artikel lesen und sich Videos ihrer Reden ansehen. Mindestens fünf Mitgliedern des Syndikats wurde ein Video einer Rede gezeigt, die Lankesh 2012 in Mangaluru im Süden Karnatakas gehalten hatte. In ihr stellt sie die Wurzeln des Hinduismus infrage. Waghmare, der angeheuerte Schütze, konnte Zeilen aus dem Video wortwörtlich zitieren, was darauf hindeutet, dass ihm das Video "wiederholt" gezeigt wurde, so ein Ermittler der örtlichen Polizei, der anonym mit Forbidden Stories sprach. Ein Anwalt des Angeklagten wollte sich auf Anfrage von Forbidden Stories nicht äußern.
Bei einem geheimen Treffen entschieden die Verschwörer, dass Lankesh "um jeden Preis" sterben müsse, heißt es in der Akte. "Wenn man sie gewähren ließe, würde sie die hinduistischen Traditionen in der Gesellschaft in Verruf bringen", schlossen sie angeblich.
Laut Polizeiquellen war das YouTube-Video – das auf Kales Laptop heruntergeladen wurde – ein Baustein in einem "allmählichen Indoktrinationsprozess". Wie Forbidden Stories durch eine forensische Analyse in Zusammenarbeit mit Forschern des Digital Witness Lab der Universität Princeton herausfand, verbreitete sich dieses Video unter rechtsextremen indischen Gruppen, einige Kopien hatten 100 Millionen Interaktionen. 2014 teilte die offizielle Internetseite der BJP in Karnataka das Video mit der Warnung: "Wenn wir das nächste Mal solche Reden hören, sollten wir eine angemessene juristische Antwort geben." Die BJP Karnataka antwortete auf mehrfache Bitten um Stellungnahme dazu nicht.
In einigen Fällen wurde das Video auch über mehrere Kanäle mit ähnlich formulierten Anmerkungen verbreitet, was auf eine möglicherweise koordinierte Veröffentlichung hindeutet. Jedes Mal wurde das Video leicht verändert. Es startet mit einem schwarzen Bildschirm, darauf die Worte: "Warum ich den Säkularismus in Indien hasse."
Lankeshs Worte, sagt KL Ashok, der die Veranstaltung organisierte, auf der Lankesh ihre Rede hielt, seien in dem Video aus dem Zusammenhang gerissen geworden. "Die Rede wurde gekürzt und enthält nur den Ausschnitt, in dem sie sagt, dass die hinduistische Religion keinen Vater oder keine Mutter hat. Dabei wollte sie mit dieser Aussage vielmehr die Pluralität der Religion hervorheben. Es gibt Tausende von Kasten und mehrere Glaubensrichtungen", erklärt Ashok.
Vor einigen Jahren wurde das Video von YouTube entfernt, von wem, ist nicht klar. Hunderttausende Menschen hatten es bis dahin gesehen. Auf Fragen dazu von Forbidden Stories antwortete YouTubes Mutterkonzern Google, die Richtlinien von YouTube würden konsistent angewendet. Die Mehrzahl der problematischen Videos werde nach weniger als zehn Aufrufen entfernt.
Zehn Tage nach ihrer Ermordung hätte Gauri Lankesh eigentlich vor Gericht erscheinen sollen. Man warf ihr vor, ihre Rede habe die gesellschaftliche Harmonie gestört. "Ich stehe wegen dieser Rede vor Gericht", schrieb sie einige Monate zuvor auf Twitter. "Ich stehe zu jedem Wort, das ich gesagt habe."
Sie bekam nie die Chance, vor Gericht zu gehen oder sich vor den Augen der Öffentlichkeit zu verteidigen.