Auch im Westen:
Wächtersbach: Drei Weizen vorher, zwei danach
Ein Sportschütze schießt einen Mann aus Eritrea nieder, in seiner Stammkneipe wird weiter getrunken und auf Flüchtlinge geschimpft. Zu Besuch im Echoraum des Hasses
Eine Reportage von Christian Parth, Wächtersbach
Drei Weizen vorher, zwei danach
Es ist eine gesellige Runde, die sich am späten Freitagnachmittag im Martinseck eingefunden hat, eine Kneipe in einem Wohngebiet von Biebergemünd. An den braunen Holztischen sitzen Schimmel, Kolbe und Chappi. "Wie das Hundefutter", witzelt der kleine, stämmige Mann im schwarzen Trägershirt, der Kopf haarlos. Alle drei sind über 60 Jahre alt. An den Wänden hängen Kalender mit Pin-Up-Girls und angestaubte Fußball-Fanschals, vom Nikotin über die Jahre vergilbt. Wirt Dirk R. serviert Pils, Apfelwein und Kräuterschnaps. Seinen langen Bart hat er am Kinnansatz mit einem Gummiband abgebunden. Wie ein Zapfen steht der Wuchs nach unten. Ab und an zündet sich einer eine Zigarette an. Die meisten kommen von der Arbeit, man freut sich aufs Wochenende.
Angesichts der Tatsache, dass einer der ihren vor wenigen Tagen fast einen Menschen getötet hatte, sind Wirt und Gäste erstaunlich ausgelassen. Die verrauchte Kneipe hat es in den vergangenen Tagen zu bundesweiter Erwähnung gebracht. Von hier aus machte sich der 55 Jahre alte Roland K. Montagmittag nach dem Frühschoppen auf, um im benachbarten Wächtersbach einen Flüchtling zu ermorden. Hierher kehrte er nach seiner Tat zurück. Drei Weizen vorher, zwei danach. Als er zurückkehrte, hat er laut Gästen eine schwarze Stofftasche dabei, in der sich vermutlich die beiden halbautomatischen Pistolen befunden haben, die die Polizei später sicherstellt. "Isch hab 'nem Nescher in de Ranze geschosse", soll K. in breiter südhessischer Mundart zum Wirt gesagt haben. Ranzen ist der Bauch. – "Roland, babbel kein Mist."
K. zahlt die Zeche, steigt in seinen Toyota Corolla, fährt runter auf eine halb vertrocknete Wiese gleich gegenüber dem Sportplatz des TSV Kassel 1908. Er greift zum Handy, wählt den Notruf und berichtet von seiner Tat. Dann nimmt der pokalgekrönte Sportschütze eine der beiden Pistolen, Kaliber 45, und schießt sich in den Kopf. Wenige Minuten später kreist ein Hubschrauber über Biebergemünd. K. wird noch reanimiert, kurz darauf ist er tot.
Bürgermeister: "Es gab nie ein Problem"
Sein Opfer hatte er nach bisherigen Erkenntnissen wahllos ausgewählt. Der 26 Jahre alte Bilal M. ging an diesem Montagmittag die Industriestraße in Wächtersbach entlang, als Roland K. aus dem fahrenden Auto heraus mit seiner Neun-Millimeter sechs Mal auf ihn schoss. Fünf Projektile verfehlten das Ziel, eines schlug gleich neben dem Bauchnabel ein. Der gebürtige Eritreer, der 2012 als Flüchtling ins hessische Wächtersbach kam, muss notoperiert werden. "Hätten die Passanten nicht sofort Hilfe geholt, wäre er vermutlich verblutet", sagte Oberstaatsanwalt Alexander Badle. "Er hatte viel Glück." Sein Zustand sei inzwischen stabil. Er nennt die Tat klar rassistisch motiviert. Chappi aus dem Martinseck meint: "Hätten da mehr von denen gestanden, hätte er auch die abgeknallt."
Seit der Tat hat sich viel verändert im Main-Kinzig-Kreis. Weltoffen und tolerant sei man hier im Speckgürtel der internationalen Finanzmetropole Frankfurt, sagt der Wächtersbacher Bürgermeister Andreas Weiher in seinem Büro. "Die Integration lief vorbildlich", betont der SPD-Politiker. Die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen habe auch in der Hochphase im Jahr 2015 gut funktioniert. Dezentrale Unterbringung in privaten Unterkünften, zahlreiche ehrenamtliche Helferinnen, Unterstützung der Kirchen, Bildungsangebote, Sprachkurse. "Es gab nie ein Problem." Und jetzt sei einfach einer gekommen und "schießt einen Farbigen wegen seiner Hautfarbe ab".
Seine Stadt habe ein starkes Zeichen gesetzt, sagt Weiher über seine Bürger. Einen Tag nach den Schüssen versammelten sich am Dienstagabend etwa 400 Menschen am Tatort an der Industriestraße, um bei einer Mahnwache ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen.
"Das war doch nur ein Flüchtling, der lebt doch noch"
Doch da gab es auch die andere Seite. "Die, die meinen, sie ist schuld", sagt Weiher und formt die Merkel-Raute. Nach der Tat habe er befremdliche Anrufe bekommen. "Das war doch nur ein Flüchtling, der lebt doch noch", habe einer gesagt. Weiher wird nachdenklich. Da gebe es eben noch immer diese Neiddebatte, dass es einem Flüchtling besser gehe als einem selbst. "Es hat sich etwas verändert in der Wertevermittlung", glaubt Weiher. "Die Gesellschaft driftet auseinander, es sind Hemmschwellen gefallen." Eine der Kernursachen für die Enthemmung sind für den Bürgermeister die sozialen Medien.
Womöglich steht Wächtersbach für viele Provinzorte in Deutschland, in denen die Fassade glänzt, während das Fundament unbemerkt zu schimmeln begonnen hat. Vordergründig scheint das gesellschaftliche Gefüge in Ordnung, man geht auf die Straße und steht für weltoffene Überzeugungen ein. Und doch muss die Region nun erkennen, dass es nicht nur dort brodelt, wo man es eigentlich schon erwartet – in Sachsen oder Brandenburg –, sondern auch hier am Rande der Boomtown Frankfurt. Menschen, die öffentlich nicht auffallen, die sich aber, wie einige Politiker hier sagen, abgehängt fühlen. Die von Unzufriedenheit und diffusen Ängsten getrieben werden und Hassbotschaften verbreiten.
Wie schon nach dem Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke begann auch nach dem Mordversuch an Bilal M. auf Facebook die Hetze. Unter verschiedenen regionalen Accounts wetterten Nutzer gegen die Solidarität für den Eritreer. Für manche ist Roland K. ein Held.
Angespannte Sicherheitslage
In einer ersten Zwischenbilanz fünf Tage nach der Tat gehen die Ermittler von einem "frustrierten, isolierten Einzeltäter" aus, der aus rassistischen Motiven habe morden wollen. Das sollte nicht als Entwarnung verstanden werden. Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts, spricht von einer angespannten Sicherheitslage. "Schwerste Gewaltstraftaten durch Einzeltäter oder Kleinstgruppen, auch die Bildung terroristischer Gruppen innerhalb des rechten Spektrums, müssen in Betracht gezogen werden", zitierte Der Spiegel aus einem vertraulichen Protokoll zu einer Sondersitzung des Bundestag-Innenausschusses zum Mord an Lübcke Ende Juni. Es bestehe "eine Dringlichkeit" zu handeln.
Die Stammgäste im Martinseck beschreiben Roland K. als jemanden, der einige Tiefschläge erlebt hatte. Zwei Ehen gescheitert, den Job als LKW-Fahrer verloren, durch Hartz IV in Geldnot geraten, vor einigen Jahren sei zudem sein Hund gestorben. Der Boxer habe Krebs gehabt und sei beim Gassigehen tot umgefallen. Danach sei K. in seine damalige Stammkneipe gegangen und habe angefangen zu weinen. "Ein Tier ist besser als ein Mensch", habe er gesagt. "Der Roland, der war auch weich, kein Killer", sagt ein Bekannter aus dem Schützenverein.
Auch sein Vermieter fand an K. nichts Auffälliges. Als er sich damals für die Wohnung bewarb, sei er der einzige gewesen, der direkt eine Verdienstbescheinigung vorgelegt habe. Sogar, dass er Sportschütze sei, habe er ihm gesagt und gefragt, ob das ein Problem sei. Zu den Geburtstagen und an Ostern habe der den Kindern Schokolade geschenkt. Mit der thailändischen Frau des Nachbarn habe er immer nett geplaudert, sein Essen habe er sich oft beim Inder geholt. Schlimm sei nur sein Husten gewesen. K. war starker Raucher.
Vor anderthalb Jahren etwa habe er dann das erste Mal gesagt, "dass er einen mitnehmen" wolle, sollte er sich eines Tages umbringen, erzählt der Wirt. Auch wenn K. diesen Satz öfter gesagt habe, ernst genommen habe das niemand. Dass man ihm nun Vorwürfe mache, die Ankündigung einer Straftat den Behörden nicht gemeldet zu haben, sei absurd. In der Kneipe werde viel dummes Zeug erzählt, "Gebabbel halt". Gegen Ausländer habe K. immer wieder gewettert. "Der Roland hatte ein Problem mit Asylanten und Flüchtlingen", sagt der Wirt. "Die haben ihm halt nicht geschmeckt."
"Wir sind hier keine Nazis"
In der Kneipe "Zum Martinseck" fand Roland K. den idealen Echoraum für seinen Hass
Und doch muss etwas passiert sein in der Gedankenwelt des Roland K., was seinen Hass auf Asylbewerber und Flüchtlinge so groß werden ließ, dass er wenigstens einen von ihnen töten wollte. Einer der Gründe findet sich vielleicht auch im Martinseck in Biebergemünd, wo Roland K. einen idealen Echoraum für seine Vorurteile fand. Hier sagt man auch im Beisein eines Journalisten, was man von Flüchtlingen und Solidaritätsaktionen hält. Im Martinseck bekommen anonyme Facebook-Einträge plötzlich ein Gesicht.
"Was der Roland gemacht hat, das ist nicht richtig", sagt Kolbe, Schnauzbart, stoppliges Haar, Blaumann mit kurzen Hosenbeinen. "Aber eine Mahnwache? Das ist doch ein Witz. Der ist doch nicht mal tot", sagt der LKW-Fahrer. "Die vergewaltigen unsere Frauen, da gab es noch nie eine Mahnwache. Eine Riesensauerei ist das. Dass da Hass entsteht, kann ich verstehen. Aber da ist auch die Führung dran schuld", winkt Kolbe ab, "die in Berlin." Eine Regierung, die unfähig sei, hart durchzugreifen und kriminelle Ausländer abzuschieben. Andere Länder seien nicht so blöd. "Was ich sage, ist nicht ausländerfeindlich. Wir sind hier keine Nazis", betont er. "Wir trinken hier auch mit Türken, Jugos und Bulgaren, da gibt es gar kein Problem", sagt er. "Aber wenn das gewisse Pack kommt und sich nicht benimmt, dann raus damit." Aus dem Hintergrund schaltet sich Schimmel ein: "Eigentlich müsste man den Staat erschießen."
Das enthemmte Wort besorgt Beate Rilke schon seit einiger Zeit. Die Pastorin von Wächtersbach sitzt an ihrem Schreibtisch im Pfarrbüro, vor ihr ein Wust an Papier. Seit 14 Jahren betreut sie die Gemeinde. Sie hat gemerkt, dass sich die Kultur des Miteinanders verändert hat. Um die Gemeinschaft zu stärken, hat Rilke unter anderem interreligiöse Gebete im Schlossgarten organisiert – Seite an Seite beteten da Muslime, Katholiken, Evangelische und ein orthodoxer Kaplan aus Eritrea. Auch Rilke musste sich für ihr Engagement in der Flüchtlingshilfe einiges anhören. "Warum macht ihr das für die, würdet ihr das auch für Deutsche tun?" Schuld an der Situation habe auch die AfD, die mit ihren Äußerungen das soziale Klima vergifte. Um die 20 Prozent erhielt sie in der Region bei den letzten Landtagswahlen 2018. Das erste, was Rilke nach der Tat durch den Kopf gegangen sei, seien die Worte von AfD-Chef Alexander Gauland gewesen. Der hatte nach der Bundestagswahl 2017 gesagt, dass man den politischen Gegner jagen und vor sich hertreiben wolle. "Solche Sätze machen etwas mit Menschen", sagt sie. Das sei kriegerische Rhetorik. "Wenn jemand gewalttätig kommuniziert, dann kann das Gewalt werden."
Angst, auf die Straße zu gehen
Es gibt weitere Menschen in Wächtersbach, die der AfD eine Mitverantwortung geben. Reiner Bousonville, Fraktionschef der Grünen im Kreistag, nennt die Partei gar den "geistigen Wegbereiter" für die Tat von Roland K. Stephan Siemon, der einzige Buchhändler im Ort, spricht von einem "veritablen Problem mit rechtrandständigen Menschen" in seiner Stadt. Seit der Tat hätten Menschen mit Migrationshintergrund Angst, auf die Straße zu gehen. "Das ist bestürzend." Man müsse endlich aufhören, die Gefahren durch die AfD kleinzureden, und klare Grenzen ziehen. Auf die Wähler der Rechtspopulisten müsse man freilich zugehen, die Partei aber "muss zurück in die Schmuddelecke hinter den Schmuddelzaun".
Ob eine Ächtung und Isolierung der AfD allein ausreicht, darf nach dem Gespräch mit den Stammgästen im Martinseck bezweifelt werden. "Was sollen wir mit der AfD?", fragt Kolbe, runzelt die Stirn und wirft die Hand in die Luft. "Die haben nichts, keine Idee, kein Konzept, gar nichts. Die sind einfach nur dagegen." Chappie ergänzt: "Die AfD braucht keine Sau." Die Stammgäste im Martinseck wollen eigentlich niemanden mehr wählen. Schenkt man ihnen Glauben, sind sie so etwas wie politische Heimatlose, die auf der Suche nach dem Zuhause ziellos durch die deutsche Parteienlandschaft wandern.
Wirt Dirk will gleich zumachen, die ersten Gäste verlassen das Kneipenwohnzimmer. Ob man den Roland hier eigentlich vermisst? "Nö", sagt der Wirt. "Der eine ist weg, dann kommt halt der Nächste."
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Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
erpie