Das Puschkin-Mysterium

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erpie
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Das Puschkin-Mysterium

Beitrag von erpie »

Sie leihen sich Originale und geben Fälschungen zurück, oder sie brechen gleich in die Bibliotheken ein: In ganz Europa klauen Diebe seltene Puschkin-Bände. Warum haben sie es ausgerechnet auf ihn abgesehen?
Eine Expertin aus Paris hat einen Verdacht – und die Ermittler haben eine neue Spur.
Aglaé Achechova leitet an der Universitätsbibliothek für Sprachen und Zivilisationen (Bulac) in Paris die russische Kollektion. Seit vergangenem Herbst wacht sie über die wertvollsten Exemplare noch vorsichtiger. Ein Original, das zu Lebzeiten von Alexander Puschkin erschienen ist, darf sie nicht mehr in den Lesesaal ausgeben. Denn hier, wo Achechova und ihre Mitarbeiterinnen auf die Unversehrtheit seltener Bücher achten, wurde eine Scheibe zerschlagen. Nur ein paar Schritte entfernt, in der Ecke des Lesesaals, hoch über einem dunklen Regal. Vor einem halben Jahr war das, tief in der Nacht.Ein unheimlicher Bücherdiebstahl zieht sich durch Europa, seit zwei Jahren. Immer wieder werden in den großen Bibliotheken wertvolle russische Werke gestohlen. Es fing an im Frühjahr 2022. In der lettischen Nationalbibliothek verschwanden drei Bücher, darunter eines von Puschkin, in der Universität Tartu in Estland fehlten plötzlich acht Ausgaben von Puschkin und Nikolai Gogol. In der Universitätsbibliothek im litauischen Vilnius nahmen Diebe im vorigen Mai siebzehn Bücher mit. Den spektakulärsten Fall gab es im vergangenen Herbst in Polen, in der Universitätsbibliothek in Warschau. Neunundsiebzig Bücher weg.
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Im Westen Europas setzte sich die Serie fort. In der Universitätsbibliothek in Genf war es ein Buch, erschienen zu Lebzeiten Puschkins. Er wurde 1799 geboren und starb im Winter 1837, nachdem er sich aus Eifersucht mit seinem Schwager duelliert hatte. In der französischen Nationalbibliothek BNF fehlen neun russische Bücher, von Puschkin und seinem Dichterkollegen Michail Lermontow. Aus der Diderot-Bibliothek in Lyon verschwanden zehn teure Exemplare, unter anderem eine frühe Ausgabe von Puschkins „Boris Godunow“. Das war im vergangenen Juli. Ist es entrückte Liebe zur russischen Literatur, patriotische Liebe? Kitzel des Dramas? Kriminelle, die wissen, was die Beute wert ist?
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Die Spur zieht sich bis nach Deutschland. Die Staatsbibliothek in Berlin bemerkte im Januar, „nach eingehender Prüfung“, wie eine Sprecherin bestätigt, dass fünf Bücher gestohlen wurden: drei von Puschkin, „Das Räuberbrüderpaar“, „Der Gefangene im Kaukasus“, „Boris Godunow“. Außerdem je ein Band des Dichters Alexej Krutschonych und der Malerin Alexandra Ekster, frühes 20. Jahrhundert. Die Originale wurden durch Kopien ausgetauscht. Die Bayerische Staatsbibliothek in München bestätigt den Verlust zweier russischer Bücher. Aber bei Aglaé Achechova war es der Diebstahl von Lyon, der Alarm auslöste.
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Achechova streckt ihre Hand in die Höhe und zieht eine Linie durch die Luft: „Puschkin ist hier, Superlevel“, sagt sie. In Europa sei er ja eher bekannt durch Theater, Oper, durch Libretti auf der Grundlage von „Pique Dame“, „Boris Godunow“, „Eugen Onegin“. Kurios findet sie das. „Für Russland ist Puschkin der Gründer der russischen Literatursprache, vergleichbar mit Goethe in Deutschland.“ Er habe neue Wörter in den russischen Wortschatz eingeführt, ihn bereichert, ausgedehnt, russische Äquivalente für damals gebräuchliche französische Wörter erfunden. Das Wort „vulgaire“ etwa verwandelte er in das Adjektiv „wulgarnyj“.
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Könnte die Diebstahlserie also mit Krieg und Patriotismus zusammenhängen? Mit Kultur, die aus dem feindlichen Westen, so denkt man ja in Moskau, zurück nach Russland gebracht wird? Mit Puschkin, der Ikone, in dessen Werk schon immer fündig wurde, wer wollte: Liberale, Monarchisten, Imperialisten, Nationalisten, Demokraten? Auch die Sowjets verehrten ihn.

Einige der gestohlenen Bücher tauchten in Russland auf. Nach Angaben von Europol wurden sie über Auktionshäuser in Sankt Petersburg und Moskau verkauft. Eines davon für 30 500 Euro, wie der polnische Wissenschaftler Hieronim Grala, Professor an der betroffenen Universität Warschau, der Nachrichtenagentur AFP sagte. „Mir ist klar, dass die gesamte Aktion zentral von Russland aus organisiert wurde“, sagte er.
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Aglaé Achechova hat sich natürlich längst Gedanken darüber gemacht, was der Grund für das Verschwinden der Bücher sein könnte. Und weshalb das alles nach dem Krieg gegen die Ukraine begann. „Der Krieg und die Sanktionen haben den europäischen Markt verändert“, sagt sie. „Solche Bücher sind jetzt für russische Sammler schwerer zu bekommen. Also steigen die Preise.“ Darauf spekulierten wohl die Diebe. „Ich glaube, dass es Leute sind, die einfach viel Gewinn machen wollen.“
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https://www.sueddeutsche.de/projekte/ar ... s-e318125/
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
erpie