Wer sich über das Elend der Unterdrückten empört, denkt noch lange nicht aufgeklärt. Ein Gespräch mit der Philosophin Susan Neiman, die sich als Linke versteht und mit ihrem neuen Buch das kritische Denken schärfen will.
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ZEIT: Was genau ist woke?
Neiman: Der Ausdruck ist erstmals 1938 in dem Lied Scottsboro Boys des großen Bluesmusikers Leadbelly belegt. Es ist neun schwarzen Teenagern gewidmet, deren Hinrichtung wegen Vergewaltigungen, die sie nie begangen hatten, erst durch jahrelange internationale Proteste verhindert werden konnte. Woke hieß in diesem Sinne, wach zu bleiben für Ungerechtigkeit. Heute lässt sich sagen: Die Woken sind empört über das Elend der Unterdrückten, und diese Empörung teilen sie mit den Linken. Aber bei den Woken führt sie in einen Wald aus Traumata und übersieht, dass Menschen mehr sind als das, was die Welt uns angetan hat. Sie übersieht auch, dass Geschichte aus mehr besteht als aus Verbrechen. Die Woken haben sich dem Stammesdenken zugewandt, also einer Sortierung von Menschen nach Gruppenmerkmalen, doch Menschen handeln oft aus Gründen, die nichts mit Stammeszugehörigkeit zu tun haben.