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Nach dem Memorial-Verbot: Den verfemten Opfern ein Gesicht gegeben
Bernhard Schulz
10-12 Minuten
Kurz vor dem Jahreswechsel löste das Oberste Gericht Russlands die Menschenrechtsorganisation „Memorial International“ als Dachverband sowie das Menschenrechtszentrum gleichen Namens auf. Die Verstöße, die Memorial zur Last gelegt wurden, nehmen sich konstruiert aus: Insbesondere sei auf Papieren der Organisation der Hinweis unterblieben, dass es sich um einen „ausländischen Agenten“ handele.
Das ist ein Etikett, das Memorial im Zuge der schrittweisen Entrechtung qua Gesetz verpasst worden war, weil die Organisation aus dem Ausland mitfinanziert wird – durch Spenden wohlgemerkt, nicht, wie glauben gemacht wurde, von ausländischen Regierungen.
Mit dem Ende der russischen Dachorganisation von Memorial wird ein Schlussstrich gezogen unter mehr als drei Jahrzehnte Erinnerungsarbeit in Russland. Andrej Sacharow, der sowjetische Physiker, Dissident und Friedensnobelpreisträger, gehörte 1988 zu den Initiatoren von Memorial.
Der sowjetische Dissident Andrej Sacharow gehörte 1988 zu den Initiatoren von Memorial.
Im Januar 1989 fand der Gründungskongress in Moskau statt, an dem 462 Delegierte von 250 Organisationen aus 103 Städten der damals noch bestehenden Sowjetunion teilnahmen. Das Sowjetreich zerfiel, Memorial aber etablierte sich in der an Ausdehnung geschrumpften Russischen Föderation als Aufklärer der verdrängten und verheimlichten Kapitel der sowjetischen Geschichte – ihrer Kapitel von Terror und Vernichtung.
Quer durch Russland hat Memorial Mahnmale errichtet
Die Aufarbeitung der Zeiten unter Stalin, der von 1927 bis zu seinem Tod 1953 als Führer der KPdSU die höchste Machtposition innehatte und sich mittels des Großen Terrors der Jahre 1936-38 zum unumschränkten Alleinherrscher aufschwang, bildet den wichtigsten Teil der Arbeit von Memorial.
Die Jelzin-Jahre waren das Jahrzehnt der Aufarbeitung oder besser Kenntnisnahme der Stalinschen Verbrechen.
Bernhard Schulz, Tagesspiegel-Autor
1990 errichtete die Menschenrechtsorganisation ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus gegenüber der Lubjanka, der Zentrale des KGB und seines Vorläufers, der Tscheka. Daneben hat Memorial stets den Blick auf die Konfliktzonen Russlands gerichtet, insbesondere auf die Kriege, die Russland im Kaukasus gegen die Tschetschenen sowie gegen Georgien in Südossetien führte.
Die nachsowjetische Zeit teilt sich in zwei Perioden. Am Anfang standen die Jahre der Auflösung der Sowjetunion und der scharf antisowjetischen Regierungszeit Boris Jelzins. Gefolgt wurden sie von der seit dem Jahr 2000 andauernden Regentschaft des als Nachwuchspolitiker ins Präsidentenamt gekommenen und seither seine Macht immer weiter ausbauenden Wladimir Putin.
Denkmal für die Opfer des sowjetischen Terrors „Mauer der Trauer“ des Bildhauers Georgi Franguljan in Moskau
Die Jelzin-Jahre, wirtschaftlich und gesellschaftlich von Umbrüchen und Krisen, Verarmung und Raubtier-Kapitalismus gekennzeichnet, waren das Jahrzehnt der Aufarbeitung oder besser Kenntnisnahme der Stalinschen Verbrechen. Spuren der zumeist Ende der fünfziger Jahre aufgegebenen, in einigen Fällen bis fast zum Ende der Sowjetunion betriebenen Lager des Gulag – die Abkürzung steht für „Hauptverwaltung der Lager“ – wurden aufgedeckt und dokumentiert. An manchen Orten, wie im fernöstlichen Magadan, handelt es sich um eine aus dem Verwaltungszentrum eines riesigen Lagerkomplexes hervorgegangene Großstadt.
Quer durch das riesige Russland hat Memorial Denkmäler aufgerichtet, die an die namenlosen und in den Weiten des Landes verscharrten Opfer erinnern. Zudem sammeln Aktivisten Objekte, die die Geschichte der Lager und ihrer Häftlinge dokumentieren. In mehreren Ländern, darunter Deutschland, etablierten sich Regionalorganisationen von Memorial – nicht zuletzt, um Spenden einzusammeln, die von den sowjetischen Behörden seit jeher beargwöhnt werden.
Im Denken von Geheimdiensten sind solche Gelder der Beweis für „Infiltration“ und „Spionage. Wladimir Putin ist als Geheimdienstmann des KGB groß geworden und blieb stets dessen Denkmustern verhaftet, etwa in der Einteilung der Welt ausschließlich in Freund und Feind, in Unterstützer und Verräter. Für die Gedenkarbeit von Memorial ist das von besonderer Bedeutung. Denn Putin beurteilt die historische Erinnerung nach ihrem Nutzen für das Geschichtsbild, das er dem Land in zunehmend einseitiger Weise verordnet.
Ein Memorial-Aktivist hatte sich vor dem obersten Gerichtshof an einen Pfahl gekettet. Polizisten machten ihn los und nahmen ihn in Gewahrsam.
Obgleich sich Putin hinsichtlich der von vielen seiner Anhänger zelebrierten Stalin-Verehrung immer zurückgehalten hat und mehrfach den Terror der Sowjetzeit, wenn auch in bewusst unbestimmter Weise, angesprochen hat, lässt er doch an Stalins positiv bewerteter Rolle als Sieger über den „Hitlerfaschismus“ keinerlei Zweifel.
Täter-Akten hält der Geheimdienst nach wie vor unter Verschluss
Dieses seit 1945 kanonisierte Bild wird auch durch die Aufdeckung des Terrors nicht beeinträchtigt, insofern der Terror als „notwendig“ deklariert wird – bestenfalls als Unglück für die Betroffenen, nicht aber als planvolles Handeln des Staates.
Gerade das Aufbrechen des familiären Schweigens ist eine der großen Leistungen von Memorial und ihrer lokalen Organisationen.
Bernhard Schulz, Tagesspiegel-Autor
Der Geheimdienst FSB als Nachfolger des KGB hält nach wie vor die Akten unter Verschluss, die die Täter benennen könnten, etwa die Mitglieder der berüchtigten Dreierkomitees der „Troika“, die während des Großen Terrors Ankläger, Richter und Vollstrecker der ohnehin feststehenden Urteile zugleich waren. Ihnen fielen – zumindest diese Zahl ist bekannt – rund 700.000 Menschen zum Opfer; wohlgemerkt ohne die in die Millionen gehenden namenlosen Häftlinge, die in den Gefängnissen, auf den oft monatelangen Transporten in die Lager oder bei der dortigen Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen ums Leben kamen.
Sie wurden im Lager ohnehin nur mit Nummern geführt und im Todesfall einfach gestrichen. Die fiktiven Prozesse jedoch wurden in geradezu absurder Vollständigkeit protokolliert und werden in den unzugänglichen Geheimdienstarchiven weiterhin unter Verschluss gehalten.
Dokumente des Grauens: Memorial-Vorstand Oleg Orlow in der Ausstellung am Moskauer Sitz der Organisation.
Die Mitarbeitenden von Memorial haben Abertausenden verfemter Opfer ein Gesicht gegeben, indem sie von Überlebenden der Lager und ihren Angehörigen, meist aus der Generation der vaterlos aufgewachsenen Kinder, Objekte, Dokumente sowie Gedächtnisprotokolle sammelten. Das in der Innenstadt Moskaus vorhandene, eigene Haus gehört rechtlich Memorial Moskau, und auf diesen Umstand stützt sich die Hoffnung, dass das dort geführte, umfangreiche Archiv ungeachtet des Verbots von Memorial International erhalten bleiben kann.
Gerade das Aufbrechen des familiären Schweigens ist eine der großen Leistungen von Memorial und ihrer lokalen Organisationen. Häftlingen war es nach der Entlassung verboten, über ihre Lagerzeit zu sprechen, zudem waren sie als „Volksfeinde“ nach dem Strafgesetzbuch gebrandmarkt. Ihre Familien waren noch nach Jahrzehnten Benachteiligungen ausgesetzt, sei es durch das Fortwirken von Verbannungen – die auf die eigentliche Haftstrafe folgten –, sei es bei der Schul- und Studienzulassung der Kinder. „Man“ sprach nicht über „Volksfeinde“ in der eigenen Familie, obgleich die Schicksale einander millionenfach ähnelten.
Das Museum der Geschichte des Gulags wurde 2015 in Moskau eröffnet.
Neben Memorial haben sich andere Institutionen und Einzelpersonen um die Aufarbeitung der sowjetischen Gewaltgeschichte gekümmert. So ist das Moskauer Gulag-Museum die Gründung des Sohnes eines der höchstrangigen Bolschewiki, die Stalin in den dreißiger Jahren ermorden ließ, und selbst langjährigen Lagerhäftlings.
Die verfallenen Reste von Gulag-Bergwerken aufgespürt
Das Schicksal der Juden in der Sowjetunion, die bereits vor, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg der antisemitischen Paranoia Stalins ausgesetzt waren, wird in der multimedial angelegten Darstellung des „Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz“ behandelt, das Ende 2012 mit Finanzierung durch den Oligarchen Roman Abramowitsch in einem denkmalgeschützten Busdepot der zwanziger Jahre eröffnet wurde.
Nicht zu vernachlässigen ist auch die Arbeit nicht-russischer Historiker, die sich, meist mit Unterstützung durch Memorial, auf die Suche nach materiellen Zeugnissen des Terrors machten, wie der polnische Fotograf Tomasz Kizny, der schon 1986 begann, Fotografien ehemaliger Häftlinge zu sammeln, und der später die verfallenden Reste von Gulag-Bergwerken in der arktischen Kälte Nordsibiriens aufspürte.
Schließlich spielt auch die Literatur eine besondere Rolle, gerade in Russland, diesem Dichter- und Leseland. So wurden Jewgenija Ginzburgs Lagererinnerungen, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Marschroute eines Lebens“ erschienen, 1988 in der Sowjetunion veröffentlicht, mitten in der Perestroika. Oder die Werke Warlam Schalamows, darunter die „Erzählungen aus Kolyma“ – dem nördlichsten Lagerkomplex Sibiriens –, die erst in den 1990er Jahren in Russland erscheinen konnten, lange nach dem Tod des bald zwei Jahrzehnte im Gulag eingesperrten Autors.
Nun ist Memorial International von Staats wegen aufgelöst. Die Proteste, die sich dagegen erheben, verhallen in einer russischen Öffentlichkeit, die mit immer größerer Mehrheit der Geschichtspolitik Putins folgt. Der Präsident beschwört die „Russkij Mir“, die „Russische Welt“, die sich – wie seit Jahrhunderten – von feindlichen Mächten bedroht wähnt und keine Kritik duldet. Die Erinnerung an den Terror der Stalin-Zeit verblasst. Ob Memorial, in welcher organisatorischen Form auch immer, diese Erinnerung auch in Zukunft bewahren kann, ist offen.
https://plus.tagesspiegel.de/wissen/nac ... 63874.html
Bernhard Schulz
10-12 Minuten
Kurz vor dem Jahreswechsel löste das Oberste Gericht Russlands die Menschenrechtsorganisation „Memorial International“ als Dachverband sowie das Menschenrechtszentrum gleichen Namens auf. Die Verstöße, die Memorial zur Last gelegt wurden, nehmen sich konstruiert aus: Insbesondere sei auf Papieren der Organisation der Hinweis unterblieben, dass es sich um einen „ausländischen Agenten“ handele.
Das ist ein Etikett, das Memorial im Zuge der schrittweisen Entrechtung qua Gesetz verpasst worden war, weil die Organisation aus dem Ausland mitfinanziert wird – durch Spenden wohlgemerkt, nicht, wie glauben gemacht wurde, von ausländischen Regierungen.
Mit dem Ende der russischen Dachorganisation von Memorial wird ein Schlussstrich gezogen unter mehr als drei Jahrzehnte Erinnerungsarbeit in Russland. Andrej Sacharow, der sowjetische Physiker, Dissident und Friedensnobelpreisträger, gehörte 1988 zu den Initiatoren von Memorial.
Der sowjetische Dissident Andrej Sacharow gehörte 1988 zu den Initiatoren von Memorial.
Im Januar 1989 fand der Gründungskongress in Moskau statt, an dem 462 Delegierte von 250 Organisationen aus 103 Städten der damals noch bestehenden Sowjetunion teilnahmen. Das Sowjetreich zerfiel, Memorial aber etablierte sich in der an Ausdehnung geschrumpften Russischen Föderation als Aufklärer der verdrängten und verheimlichten Kapitel der sowjetischen Geschichte – ihrer Kapitel von Terror und Vernichtung.
Quer durch Russland hat Memorial Mahnmale errichtet
Die Aufarbeitung der Zeiten unter Stalin, der von 1927 bis zu seinem Tod 1953 als Führer der KPdSU die höchste Machtposition innehatte und sich mittels des Großen Terrors der Jahre 1936-38 zum unumschränkten Alleinherrscher aufschwang, bildet den wichtigsten Teil der Arbeit von Memorial.
Die Jelzin-Jahre waren das Jahrzehnt der Aufarbeitung oder besser Kenntnisnahme der Stalinschen Verbrechen.
Bernhard Schulz, Tagesspiegel-Autor
1990 errichtete die Menschenrechtsorganisation ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus gegenüber der Lubjanka, der Zentrale des KGB und seines Vorläufers, der Tscheka. Daneben hat Memorial stets den Blick auf die Konfliktzonen Russlands gerichtet, insbesondere auf die Kriege, die Russland im Kaukasus gegen die Tschetschenen sowie gegen Georgien in Südossetien führte.
Die nachsowjetische Zeit teilt sich in zwei Perioden. Am Anfang standen die Jahre der Auflösung der Sowjetunion und der scharf antisowjetischen Regierungszeit Boris Jelzins. Gefolgt wurden sie von der seit dem Jahr 2000 andauernden Regentschaft des als Nachwuchspolitiker ins Präsidentenamt gekommenen und seither seine Macht immer weiter ausbauenden Wladimir Putin.
Denkmal für die Opfer des sowjetischen Terrors „Mauer der Trauer“ des Bildhauers Georgi Franguljan in Moskau
Die Jelzin-Jahre, wirtschaftlich und gesellschaftlich von Umbrüchen und Krisen, Verarmung und Raubtier-Kapitalismus gekennzeichnet, waren das Jahrzehnt der Aufarbeitung oder besser Kenntnisnahme der Stalinschen Verbrechen. Spuren der zumeist Ende der fünfziger Jahre aufgegebenen, in einigen Fällen bis fast zum Ende der Sowjetunion betriebenen Lager des Gulag – die Abkürzung steht für „Hauptverwaltung der Lager“ – wurden aufgedeckt und dokumentiert. An manchen Orten, wie im fernöstlichen Magadan, handelt es sich um eine aus dem Verwaltungszentrum eines riesigen Lagerkomplexes hervorgegangene Großstadt.
Quer durch das riesige Russland hat Memorial Denkmäler aufgerichtet, die an die namenlosen und in den Weiten des Landes verscharrten Opfer erinnern. Zudem sammeln Aktivisten Objekte, die die Geschichte der Lager und ihrer Häftlinge dokumentieren. In mehreren Ländern, darunter Deutschland, etablierten sich Regionalorganisationen von Memorial – nicht zuletzt, um Spenden einzusammeln, die von den sowjetischen Behörden seit jeher beargwöhnt werden.
Im Denken von Geheimdiensten sind solche Gelder der Beweis für „Infiltration“ und „Spionage. Wladimir Putin ist als Geheimdienstmann des KGB groß geworden und blieb stets dessen Denkmustern verhaftet, etwa in der Einteilung der Welt ausschließlich in Freund und Feind, in Unterstützer und Verräter. Für die Gedenkarbeit von Memorial ist das von besonderer Bedeutung. Denn Putin beurteilt die historische Erinnerung nach ihrem Nutzen für das Geschichtsbild, das er dem Land in zunehmend einseitiger Weise verordnet.
Ein Memorial-Aktivist hatte sich vor dem obersten Gerichtshof an einen Pfahl gekettet. Polizisten machten ihn los und nahmen ihn in Gewahrsam.
Obgleich sich Putin hinsichtlich der von vielen seiner Anhänger zelebrierten Stalin-Verehrung immer zurückgehalten hat und mehrfach den Terror der Sowjetzeit, wenn auch in bewusst unbestimmter Weise, angesprochen hat, lässt er doch an Stalins positiv bewerteter Rolle als Sieger über den „Hitlerfaschismus“ keinerlei Zweifel.
Täter-Akten hält der Geheimdienst nach wie vor unter Verschluss
Dieses seit 1945 kanonisierte Bild wird auch durch die Aufdeckung des Terrors nicht beeinträchtigt, insofern der Terror als „notwendig“ deklariert wird – bestenfalls als Unglück für die Betroffenen, nicht aber als planvolles Handeln des Staates.
Gerade das Aufbrechen des familiären Schweigens ist eine der großen Leistungen von Memorial und ihrer lokalen Organisationen.
Bernhard Schulz, Tagesspiegel-Autor
Der Geheimdienst FSB als Nachfolger des KGB hält nach wie vor die Akten unter Verschluss, die die Täter benennen könnten, etwa die Mitglieder der berüchtigten Dreierkomitees der „Troika“, die während des Großen Terrors Ankläger, Richter und Vollstrecker der ohnehin feststehenden Urteile zugleich waren. Ihnen fielen – zumindest diese Zahl ist bekannt – rund 700.000 Menschen zum Opfer; wohlgemerkt ohne die in die Millionen gehenden namenlosen Häftlinge, die in den Gefängnissen, auf den oft monatelangen Transporten in die Lager oder bei der dortigen Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen ums Leben kamen.
Sie wurden im Lager ohnehin nur mit Nummern geführt und im Todesfall einfach gestrichen. Die fiktiven Prozesse jedoch wurden in geradezu absurder Vollständigkeit protokolliert und werden in den unzugänglichen Geheimdienstarchiven weiterhin unter Verschluss gehalten.
Dokumente des Grauens: Memorial-Vorstand Oleg Orlow in der Ausstellung am Moskauer Sitz der Organisation.
Die Mitarbeitenden von Memorial haben Abertausenden verfemter Opfer ein Gesicht gegeben, indem sie von Überlebenden der Lager und ihren Angehörigen, meist aus der Generation der vaterlos aufgewachsenen Kinder, Objekte, Dokumente sowie Gedächtnisprotokolle sammelten. Das in der Innenstadt Moskaus vorhandene, eigene Haus gehört rechtlich Memorial Moskau, und auf diesen Umstand stützt sich die Hoffnung, dass das dort geführte, umfangreiche Archiv ungeachtet des Verbots von Memorial International erhalten bleiben kann.
Gerade das Aufbrechen des familiären Schweigens ist eine der großen Leistungen von Memorial und ihrer lokalen Organisationen. Häftlingen war es nach der Entlassung verboten, über ihre Lagerzeit zu sprechen, zudem waren sie als „Volksfeinde“ nach dem Strafgesetzbuch gebrandmarkt. Ihre Familien waren noch nach Jahrzehnten Benachteiligungen ausgesetzt, sei es durch das Fortwirken von Verbannungen – die auf die eigentliche Haftstrafe folgten –, sei es bei der Schul- und Studienzulassung der Kinder. „Man“ sprach nicht über „Volksfeinde“ in der eigenen Familie, obgleich die Schicksale einander millionenfach ähnelten.
Das Museum der Geschichte des Gulags wurde 2015 in Moskau eröffnet.
Neben Memorial haben sich andere Institutionen und Einzelpersonen um die Aufarbeitung der sowjetischen Gewaltgeschichte gekümmert. So ist das Moskauer Gulag-Museum die Gründung des Sohnes eines der höchstrangigen Bolschewiki, die Stalin in den dreißiger Jahren ermorden ließ, und selbst langjährigen Lagerhäftlings.
Die verfallenen Reste von Gulag-Bergwerken aufgespürt
Das Schicksal der Juden in der Sowjetunion, die bereits vor, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg der antisemitischen Paranoia Stalins ausgesetzt waren, wird in der multimedial angelegten Darstellung des „Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz“ behandelt, das Ende 2012 mit Finanzierung durch den Oligarchen Roman Abramowitsch in einem denkmalgeschützten Busdepot der zwanziger Jahre eröffnet wurde.
Nicht zu vernachlässigen ist auch die Arbeit nicht-russischer Historiker, die sich, meist mit Unterstützung durch Memorial, auf die Suche nach materiellen Zeugnissen des Terrors machten, wie der polnische Fotograf Tomasz Kizny, der schon 1986 begann, Fotografien ehemaliger Häftlinge zu sammeln, und der später die verfallenden Reste von Gulag-Bergwerken in der arktischen Kälte Nordsibiriens aufspürte.
Schließlich spielt auch die Literatur eine besondere Rolle, gerade in Russland, diesem Dichter- und Leseland. So wurden Jewgenija Ginzburgs Lagererinnerungen, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Marschroute eines Lebens“ erschienen, 1988 in der Sowjetunion veröffentlicht, mitten in der Perestroika. Oder die Werke Warlam Schalamows, darunter die „Erzählungen aus Kolyma“ – dem nördlichsten Lagerkomplex Sibiriens –, die erst in den 1990er Jahren in Russland erscheinen konnten, lange nach dem Tod des bald zwei Jahrzehnte im Gulag eingesperrten Autors.
Nun ist Memorial International von Staats wegen aufgelöst. Die Proteste, die sich dagegen erheben, verhallen in einer russischen Öffentlichkeit, die mit immer größerer Mehrheit der Geschichtspolitik Putins folgt. Der Präsident beschwört die „Russkij Mir“, die „Russische Welt“, die sich – wie seit Jahrhunderten – von feindlichen Mächten bedroht wähnt und keine Kritik duldet. Die Erinnerung an den Terror der Stalin-Zeit verblasst. Ob Memorial, in welcher organisatorischen Form auch immer, diese Erinnerung auch in Zukunft bewahren kann, ist offen.
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