„Wie konnte das alles passieren?“

Benutzeravatar
erpie
Urgestein
Beiträge: 6805
Registriert: Freitag 26. April 2019, 18:24
Wohnort: Berlin

„Wie konnte das alles passieren?“

Beitrag von erpie »

Ein Novembertag, Berlin-Neukölln, Vivantes-Krankenhaus, Klinik für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Station 2. Der Tagesspiegel hatte die Pflegerin Elizabeth Tödter dort schon im April besucht.
Spoiler
Show
„Wie konnte das alles passieren?“: Berliner Intensivpflegekräfte verzweifeln an der vierten Corona-Welle
Hannes Heine
11 - 13 Minuten

Bald wird Elizabeth Tödter wieder Haube, Schutzbrille, Maske, Handschuhe, Kittel überziehen, im Krankenzimmer verschwinden, sich neben den High-Tech-Geräten ans Bett stellen und ihren Kollegen helfen, einen komatösen Patienten so umzudrehen, dass die künstliche Beatmung nicht unterbrochen wird.

Ab 100 Kilogramm Körpergewicht sind drei, vier Pflegekräfte nötig. Patienten einer Covid-19-Intensivstation sind schwach und die Schläuche, die zu ihnen führen, erschweren die Arbeit.

„Nach 20 Monaten im Krisenmodus erzeugt diese Corona-Welle auch deshalb so viel Frust, weil sie vermeidbar gewesen wäre“, sagt Tödter. „Es gibt die Impfungen, die Schutzmaßnahmen – wie konnte das alles passieren?“

Seit 20 Monaten herrscht Krisenmodus in der Klinik für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin des Berlin-Neuköllner Vivantes-Krankenhauses.

Ein Novembertag, Berlin-Neukölln, Vivantes-Krankenhaus, Klinik für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Station 2. Der Tagesspiegel hatte die Pflegerin Elizabeth Tödter dort schon im April besucht.

Die Pandemie tobte damals seit 13 Monaten, die dritte Welle brachte die Pflegekräfte erneut an ihre Grenzen. Eingepackt wie eine Astronautin tupfte Tödter die Patienten ab, prüfte Vitalwerte, gab Medikamente, stellte Beatmungsgeräte ein.

Ein Jahr auf der Corona-Station Wie die dritte Welle Intensivpflegekräfte ans Limit bringt

Ein Land im Ausnahmezustand, damals schon. Doch die Stimmung war eine zupackende, fast zuversichtliche. Die Kliniken hatten längst umgerüstet, Flatterband, Warnschilder, Schleusen trennen die Corona-Kranken von den Nicht-Infizierten. An den Türen zur Neuköllner Station 2 steht seitdem: Covid-Bereich.
„Fünf Kolleginnen haben gekündigt“

Die Hoffnung der Pflegekräfte und Ärzte, auch der Stichwortgeber in Politik, Unternehmen und Medien ruhte auf den Impfstoffen: Die Präparate von Biontech, Astrazeneca, Moderna gingen bald im Frühsommer nicht nur in die Impfzentren, sondern auch an Praxen und Betriebsärzte. Bald fuhren Mediziner mit Spritzen in die sozialen Brennpunkte, wie das politische Berlin die impfskeptischeren Viertel gern nennt.

Die Tagesspiegel-App Alle aktuellen Nachrichten, Hintergründe und Analysen direkt auf Ihr Smartphone. Dazu die Digitale Zeitung.

Trotz des individuellen und kollektiven Einsatzes wurde es nur vorübergehend besser. Die Kliniken füllen sich wieder rasant mit Covid-19-Fällen. Zugleich verloren Deutschlands Intensivstationen erfahrene Pflegekräfte.

„Fünf Kolleginnen haben gekündigt“, sagt Tödter nun. „Am Geld lag es nicht, es ging ihnen auch nicht darum, in einer anderen Klinik anzufangen – sie wollten den Job unter diesen Gesamtumständen nicht mehr machen.“

Bald zwei Jahre nachdem im Januar 2020 der erste Sars-Cov-2-Fall hierzulande registriert wurde, sind weniger als 68 Prozent der Bundesbürger voll geimpft. Von den Plus-50-Jährigen, eine der Risikogruppen, sind es weniger als 85 Prozent. Und inzwischen brauchen diejenigen, die sich früh impfen ließen, eine Auffrischungsimpfung. Das Virus mutierte, aggressivere Formen setzten sich durch, während der Schutz in den Körpern mit der Zeit nachlässt.
Fünf Covid-19-Kranke, vier ungeimpft

Von schweren Verläufen nach einer Infektion, das berichten Ärzte, sind überwiegend Ungeimpfte betroffen. Allerdings steigt die Zahl der Patienten, die geimpft waren.

Auf Tödters Station liegen gerade fünf Covid-19-Kranke, die beatmet werden müssen und – bis auf eine Frau – ungeimpft sind. Und auch die Patientin mit dem sogenannten Impfdurchbruch ist fachlich gesehen ein eher typischer Fall: 75 Jahre alt, durch einen Tumor geschwächtes Immunsystem, so dass das Virus die Frau trotz Impfung schwer treffen konnte.

Bald zwei Jahre nachdem im Januar 2020 der erste Sars-Cov-2-Fall hierzulande registriert wurde, sind weniger als 68 Prozent der Bundesbürger voll geimpft.

Insgesamt liegen auf Deutschlands Intensivstationen 3400 Covid-19-Patienten, wovon 1750 beatmet werden. Das sind die aktuellen Zahlen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin; jene Divi, die von einer unbekannten Fachgesellschaft zum semi-offiziellen Gradmesser der Coronakrise wurde, weil staatliche Zahlen nur langsam zu erhalten sind.

Das Divi-Register wies zuletzt 19.800 Intensivbetten aus, 17.400 davon belegt – wohlgemerkt: Die meisten Fälle sind Unfallopfer, multimorbide Hochbetagte, Tumorkranke, die Covid-19-Patienten fallen sozusagen zusätzlich an.

Zusammen mit Reserven, die innerhalb einer Woche verfügbar wären, gebe es bundesweit fast 29.300 Intensivbetten – aber nur dann, wenn Kliniken planbare Operationen verschieben. Und selbst dann stünden bundesweit 3600 Betten weniger zur Verfügung als beim letzten Besuch auf der Neuköllner Intensivstation.

Das Intensivstations-Register wies zuletzt 19.800 Intensivbetten aus, 17.400 davon belegt.

Die „zermürbenden Monate“, sagte der frühere Divi-Präsident Uwe Janssens im Oktober, führten zu „Kündigungen von Stammpflegekräften“. Noch gibt es nur Schätzungen, irgendwann werden Sozialwissenschaftler eine genaue Zahl ermitteln: Tausende Pflegekräfte dürften 2021 den Job verlassen haben, Zehntausende arbeiten schon seit Jahren in anderen Branchen.

Elizabeth Tödter, 34, ist noch da. Sie arbeitet seit 2008 in der Pflege und wurde vor der vierten Welle stellvertretende Stationsleiterin. Die Kolleginnen, die gekündigt haben, verstehe sie, sagt Tödter: Der Stress, die Nachtschichten, mitunter schwierige Patienten, die eben nicht dankbar, wertschätzend, geduldig sind. Eine ihrer scheidenden Kolleginnen wolle Landschaftsarchitektur studieren, eine andere „im Büro“ anfangen.
„Soll man solche Leute auf die Maskenpflicht hinweisen?“

Dass sich im Herbst massenhaft Leute infizieren, war abzusehen, als im Sommer klar wurde, dass sich die Deutschen seltener impfen lassen, als erwartet. Zugleich werden Schutzmaßnahmen oft nicht ernst genommen.

„Wenn ich in die U-Bahn steige, sitzen oft ein paar Männer da, deren Maske unterm Kinn hängt – manche haben gar keine um“, sagt Tödter. „Und dann diese Aggression. Soll man solche Leute auf die Maskenpflicht hinweisen – und dann angepöbelt werden?“

Wachschützer, Pflegekräfte und Ärzte berichten, dass selbst in die Kliniken die Geschwister, Kinder, Eltern, Tanten und Onkel bettlägeriger Patienten zuweilen ohne Maske laufen, die sie auch nach Aufforderung nur widerwillig über die Nase ziehen.

Dass sich im Herbst massenhaft Leute infizieren, war abzusehen, als im Sommer klar wurde, dass sich die Deutschen seltener impfen lassen, als erwartet.

Johannes Danckert ist Vorstandsvorsitzender der landeseigenen Vivantes-Kliniken und Tödters oberster Chef. Vor ein paar Tagen sprach er im Roten Rathaus öffentlich von aggressiven Patienten, die ärztliche Maßnahmen lautstark anzweifelten und Pflegekräfte bepöbelten. Über nötige Vorsichtsmaßnahmen herrsche oft „Unverständnis“, sogar bei Covid-19-Kranken selbst.

Zur Jahreswende gab es mit 5762 Covid-19-Intensivpatienten in Deutschland den Höchststand. Geht es mit den Ansteckungen so weiter, könnte vor Weihnachten ein neuer Rekord erreicht werden. Vergangenen Winter schafften die Kliniken das alles nur, weil ein Lockdown galt, weil es in der gedrosselten Gesellschaft weniger Unfallopfer gab und die Krankenhäuser zudem alle planbaren Eingriffe verschoben hatten.

Vivantes-Chef Danckert sagte nun, die Lage habe „klar das Potenzial, die Kliniken zu überlasten“, man verfüge zwar über „ausreichend Beatmungsgeräte und moderne Medizintechnik“, doch hätten die drei Coronawellen „deutliche Spuren“ am Personal hinterlassen.

Danckert lässt seitdem erneut reguläre Behandlungen verschieben, um Personal und Platz für Covid-19-Patienten zu schonen. Viele Krankenhaus-Chefs sträuben sich dagegen. Denn Danckert mag die Vivantes-Kliniken aus epidemiologischer Sicht achtsam steuern, ökonomisch aber ist der Schritt riskant: Tausende Euro der Krankenkassen entgehen Vivantes mit jeder abgesagten Hüft-OP.
Ein Piepton erklingt vom Stationstresen

Zwar soll es auch in dieser Welle der Pandemie zusätzliche Mittel geben. Doch so wie vor einem Jahr, als der Bund für jedes für Covid-19-Fälle reservierte Intensivbett pro Tag mindestens 560 Euro zahlte, wird es wohl nicht laufen. Die öffentlichen Kassen sind geleert und es gibt allenfalls eine Noch-Bundesregierung, kein neues Kabinett.

Elizabeth Tödter muss gleich mit anpacken, die Kollegen schieben gerade Geräte in eines der Zimmer. Ein Piepton erklingt vom Stationstresen, irgendwo stimmen die Vitalwerte nicht.

Elizabeth Tödter – sie arbeitet seit 2008 in der Pflege und wurde vor der vierten Welle stellvertretende Stationsleiterin im Vivantes-Klinikum.

Das Drama in der Pflege wuchs sich in Berlins landeseigenen Kliniken zuletzt zur polit-ökonomischen Schlacht aus. Die Pflegekräfte in den Vivantes-Häusern und der Charité hatten im September für vier Wochen gestreikt. Sie forderten höhere Personalquoten auf den Stationen.

Schon im Streik musste Vivantes massenhaft Behandlungen verschieben, was Millioneneinbußen an Kassengeldern zur Folge hatte. Danckert sagte den Streikenden schließlich, in den nächsten drei Jahren mehr als 1000 Pflegekräfte rekrutieren zu wollen.

Trotz deutlich gestiegener Löhne wollen zu wenige Männer und Frauen in der Pflege arbeiten. Pflegekräfte müssen geduldig und energisch sein, in medizinischen und technischen Fragen geschult. Und sie haben einen im internationalen Vergleich immensen Schreibaufwand: oft drei Stunden pro Schicht.

Noch fehlen elektronische Patientenakten, Telemedizin und automatisierte Abläufe, um die Kliniken zu entlasten. In Deutschland erklären Patienten ihr Problem erst dem Hausarzt, dann dem Spezialisten, zuletzt in der Klinik – was fehleranfällig ist und dazu führt, dass Arzneien doppelt verschrieben werden.

Obwohl auch andere Gesellschaften im Durchschnitt älter werden, liegen kaum irgendwo in Europa so viele Bürger in einem Krankenbett wie in Deutschland. In Berlin sind mehr als die Hälfte aller Wartenden in den Rettungsstellen keine Notfälle, sondern hätten vom Hausarzt versorgt werden können.

Soweit sie das absehen könne, sagt Elizabeth Tödter, bleibe sie. Aber ein bisschen mehr Umsicht erhoffe sie sich schon, ein wenig Verständnis dafür, dass das Gesundheitswesen kein Automat ist, in den Patienten schwerkrank hinein– und nach ein paar gedrückten Knöpfen geheilt herausgeschoben werden.

Ein paar Tage später, Tödter bereitet sich auf den Nachtdienst vor, ein kurzes Telefonat: Die 75-jährige Patientin mit dem Tumor, die trotz Impfung an Covid-19 erkrankte, ist gestorben.
https://plus.tagesspiegel.de/gesellscha ... 08482.html
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
erpie