Working Class Hero
Vn Ron Ulrich
17-21 Minuten
Neville Southall überlässt gerne anderen die große Bühne. Als er 1995 den FA Cup mit Everton gegen Manchester United gewann, hatte er nicht viel übrig für die Siegesfeier in Wembley. Der Keeper setzte sich einfach in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Er wollte den wohl letzten großen Triumph seiner beeindruckenden Laufbahn auf seine Weise genießen. Das hieß: kein Bankett, keine großen Zeremonien und Blitzlicht mit dem Pokal, sondern alleine daheim sitzen und eine Tasse Tee trinken. Auf dem Rückweg von London nahm er eine Gruppe von ManUnited-Fans mit, die mit ihrem Wagen liegen geblieben waren. Southall erklärte hinterher, sie hätten ihn nicht erkannt. Schließlich vermuteten sie den Everton-Helden, der ihre Mannschaft da gerade geschlagen hatte, zu diesem Zeitpunkt bei der Siegesfeier.
Über 20 Jahre später begann Southall damit, seinen Twitter-Account mit über 100 000 Followern Initiativen zu überlassen, die sich beispielsweise für die Rechte von Transmenschen einsetzten. In den vergangenen Jahren hat Southall damit wie kein anderer Ex-Profi auf Themen wie Gender, Drogensucht, Depressionen oder Homophobie aufmerksam gemacht. Immer wieder wurde er deswegen von anonymen Usern angefeindet, der harmloseste Ratschlag war noch, er solle sein gutes Herz nicht von solchen Leuten ausnutzen lassen. Southall aber hat sich nicht beeindrucken lassen: „Die Leute, die dich auf Twitter beleidigen, haben das einfach nicht drauf. Im Vergleich zum Liverpooler Kop oder anderen Kurven sind diese User echte Amateure darin.“
Auf den Schultern ein Riese: 1985 gewinnt Southall den Pokalsieger-Cup gegen Rapid Wien. Das erste Tor bei Evertons 3:1-Sieg schießt Andy Gray.
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Er war und ist auf eine gesunde Art unberechenbar und außergewöhnlich – auf und neben dem Platz. Southall wurde mit Everton in den Achtzigern zweimal englischer Meister und Pokalsieger sowie einmal Europapokalsieger. 1985 wurde er zum „Spieler des Jahres“ in England gewählt. In seiner Twitter-Biografie stehen aber keine Erfolge oder Vereine, sondern: „I support sex workers, trans people & mental health issues. I hate racism & homophobia.“ Der „Guardian“ schrieb über ihn: „Southall ist jener britische Ex-Spieler mit der größten Originalität, dem größten Mitgefühl und dem meisten Sinn für politische Zusammenhänge. Er ist angetrieben davon, anderen zu helfen.“
„You gotta do what you gotta do“
Es gibt aber einen Mann, für den das alles nicht bemerkenswert ist: Neville Southall. „You gotta do what you gotta do“, ist ein typischer Satz von ihm. Du musst tun, was du tun musst. Southall feuert prägnante Sätze ab, garniert sie mit einer Weisheit, dann blickt er sein Gegenüber regungslos an. Southall hat nicht nur einen trockenen Humor, sein gesamter Blick auf die Welt scheint ungetrübt. Das fällt in seinen Antworten dann so aus:
„Warum erzählst du den Torhütern, was sie falsch gemacht haben? Das wissen sie. Wenn du ein guter Torwart bist, bist du dein größter Kritiker. Doch heute zeigen die Trainer ihnen auf den iPads ihre Fehler und sind nur negativ. Du musst positiv sein gegenüber deinen Torhütern. Hört doch auf mit den Filmen. Torhüter wissen am besten, was falsch läuft. Ich habe noch nie ein iPad im Tor stehen sehen.“
„Über Twitter kam ich in Kontakt mit den SexarbeiterInnen. Vorher dachte ich, es seien Leute an der Straßenecke. Aber wenn du dich mit ihnen austauschst, dann werden sie real. Wenn du sie schneidest, bluten sie. Wenn du ihnen einen Witz erzählst, dann lachen sie auch mal. Viele Leute haben gesagt, ich würde den Frauenhandel unterstützen, wenn ich Sexarbeitern meine Accounts überlasse. Blödsinn. Es könnte deine Mum, deine Schwester, dein Bruder sein. Ich will wissen, wer sie sind und welche Probleme sie haben.“
Neville Southall, Jahrgang 1958, hat auf Twitter 170 000 Follower. In seiner Kurz-Bio steht: „I support sex workers, trans people & mental health issues.“
Joe Miles
So spricht Southall, pointiert und unumwunden. Als ich ihn vor ein paar Jahren in einer Bar in den Docks von Liverpool traf, wartete er schon in einem großen, gepolsterten Sessel mit Blick zum Fenster. Eigentlich fehlte nur eine Katze auf seinem Schoß. Sein Buchautor sagte ihm, ein Lokaljournalist habe noch eine Frage an ihn. Southall zeigte auf mich und sagte: „Der kann warten, dieser Kerl hier ist extra aus Deutschland angereist.“ Das war mir fast peinlich, weil Southall daraufhin anderthalb Stunden erzählte, bis der Lokaljournalist entnervt davonzog. Doch man hätte „Big Nev“ – seinem Spitznamen wurde er in vielerlei Hinsicht gerecht – nicht von seinen Prinzipien abbringen können. Seinen Starrsinn hatte er schon als aktiver Profi häufig unter Beweis gestellt. Zweimal setzte er sich in der Halbzeitpause einfach an den Torpfosten, weil es ihm in der Kabine zu laut war. „Ich musste nachdenken“, sagte er dazu. Und die Rufe der Zuschauer drum herum? Die habe er von jeher einfach ausgeblendet. „Wenn du glaubst, dass etwas richtig ist, dann musst du es durchziehen.“
Wie Southall einerseits zu einem der besten Torhüter der Achtziger wurde und später zu einem Kämpfer für Gleichberechtigung, das erklärte sich auch durch seinen Lebensweg. Als Jugendlicher spielte er auf allen möglichen Plätzen von Wales – einer war dem Klischee getreu übersät mit Schafskot, auf einem anderen stand ein Telefonmast am Mittelkreis, bei anderen blies der Wind so stark, dass Southall seine eigenen Abschläge fangen musste. Southall spielte in Schulmannschaften älterer Klassen, dazu im Pubteam seines Onkels und in seiner regulären Mannschaft – da war er zwölf Jahre alt.
Ein Straßentorhüter
Bei großen Dribblern spricht man von Straßenfußballern, weil sie unberechenbare Tricks draufhaben und Widrigkeiten trotzen, die sie vom Kicken auf Asphalt kannten. Southall war so gesehen ein Straßentorhüter, der allen Widrigkeiten im Profifußball trotzte und sich immer ins Getümmel warf. Er erarbeitete sich im Tor eine eigene Resolutheit – im Gegensatz zu Oliver Kahn wandelte er die Anfeindungen der Zuschauer nicht in nach außen schlagende Aggressivität um, sondern in innere Ruhe. Bei seinem ersten Profispiel in England beerbte er einen Fanliebling und bekam beim Debüt von den eigenen Anhängern den Satz zu hören: „Hau ab, du hältst hier keinen Ball.“ Southall dachte: „Na, das wollen wir mal sehen.“ Beim Gespräch in den Liverpooler Docks sagte er mir: „Wenn dich die gegnerischen Fans das ganze Spiel über anmaulen, dann machst du nur Folgendes: Du gewinnst das Spiel, winkst nach dem Abpfiff schön zu ihnen rüber und gehst in die Kabine. Besser geht’s nicht.“
Den Schritt in den Profifußball schaffte Southall erst mit 21 Jahren. Bis dahin schuftete er als Kellner in Bars, in denen sie „das Essen vom Boden noch mal in die Fritteuse warfen“, oder auf dem Bau. „Wir waren selbstständig, von daher hieß es: Je mehr du arbeitest, desto mehr bekommst du.“ Diesem Credo sollte er später als Fußballer treu bleiben und schob nach jeder Einheit noch Extraschichten. Southall arbeitete außerdem in seinen Teenagerjahren bei der Müllabfuhr, was ihm in England den abfälligen Spitznamen binman einbrachte. Southall nannte seine Biografie daraufhin „The binman chronicles“. „Vielen gilt es als unehrenhafter Beruf, sie haben keinen Respekt vor der Arbeit! Ich sage Ihnen: In den schicksten Häusern der Gegend habe ich die schäbigsten Zustände gesehen. Die haben ihre Gärten so verkommen lassen, dass ich nicht mal meinen Hund dort hineingelassen hätte.“
Im Herbst 1989 schießt Thomas Häßler die DFB-Elf im letzten Qualispiel zur WM. Gegner ist Wales mit Torhüter Neville Southall.
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Die Referenzen zu seiner Zeit als hart arbeitender Maurer oder Müllmann sind also keinesfalls Attitüde, wie sie mitunter heutige Profis oder Rapper aufsetzen, um ihren Weg vom „Bordstein zur Skyline“ weiter auszuschmücken. Bei Southall wirkt es nicht wie eine Metamorphose, sondern als wäre der junge binman mal kurz ins Tor von einer der besten Vereinsmannschaften Europas gewechselt und danach wieder zurück. Du darfst nie vergessen, wo du herkommst – ein derart abgenutzter Satz, dass ihn sich selbst Take That einverleibt hatten. Southall würde ihn nie sagen, aber er strahlt ihn aus. Zu den „folks on the hill“, von denen John Lennon sang, die ihren Garten so verkommen lassen, scheint Southall trotz der Popularität nie gezählt zu haben.
Er war schon ein Working Class Hero, bevor er in die Stadt zog, deren berühmtester Sohn daraus einen Welthit komponiert hatte: Liverpool. 1981 flogen bei den Toxteth riots Molotowcocktails durch die Straßen. Die Unruhen waren auf jahrelange Spannungen zwischen der schwarzen Community und der Polizei zurückzuführen. Southall sagte zu den Feuern in der ihm eigenen Art: „Nicht schlecht, wenn sie für jeden Neuzugang so eine Pyro-Show in der Stadt abziehen.“ Liverpool in den Achtzigern bedeutete Arbeitskampf und Kampf für Gleichberechtigung – Premierministerin Margaret Thatcher ordnete in geheimen Papieren einen „managed decline“ (etwa: einen verwalteten Verfall) der Stadt an; ihre Mitarbeiter sagten, finanzielle Hilfe für Liverpool komme dem Ansinnen gleich, Wasser nach oben fließen zu lassen. Als Thatcher 2013 starb, sangen die Fans in den Stadien: „Ding, dong, the witch is dead.“ Southall sagte einmal: „Liverpool war gespalten in Blau für Everton und Rot für Liverpool FC, aber vereint hinter der roten Farbe der Labour-Partei.“
Eine Nationalmannschaft auf Amateurlevel
Everton und Liverpool waren gleichzeitig die tonangebenden Mannschaften in Europa und England. Von 1982 bis 1988 blieb die Meistertrophäe in der Stadt (zweimal Everton, fünfmal Liverpool). Nach der Katastrophe von Heysel 1985 belegte die UEFA die englischen Klubs mit einem Bann in internationalen Wettbewerben. Auch deswegen konnte Southall weniger große Titel und Reputation gewinnen. Der andere Grund lag an seiner Nationalität: Der Waliser Southall konnte sich mit der Auswahl nie für ein großes Turnier qualifizieren. Im Podcast „Quickly Kevin Will He Score?“ erzählt Southall, auf welchem Amateurlevel sich die Nationalelf damals bewegte. Sie trainierte auf Rugbyfeldern, Southall stand zwischen den hohen Stangen und musste sich von den Trainern anhören, warum er die Bälle aus dem oberen Eck nicht halten würde. Nach einem 0:1 auf Island strich der Trainer den Kneipenausflug, bis ein Spieler ihn darauf hinwies, dass er diesen selbst organisiert hatte. Bei einem Länderspiel gegen Brasilien lief ein Stürmer auf, der direkt aus dem Pub gestolpert war. Southall selbst war zwar häufiger bei den Saufgelagen der Waliser mit dabei, rührte aber nie auch nur einen Tropfen Alkohol an. Das Schöne seien sowieso nicht die Trinkgelage gewesen, erzählte er beim Treffen in Liverpool, sondern der „alltägliche Quatsch“. Einmal hätten er und ein Kollege das komplette Hotelzimmer eines Mitspielers leer geräumt, inklusive Bett, Fernseher und Schränken. „Er kam zurück und dachte, er sei im falschen Hotel, und irrte durch die Gegend.“
Southall liebte auch die Späße im Training, wenn er die Torschüsse seiner Kollegen ohne Handschuhe oder mit dem Kopf abwehrte. Dabei profitierte der Keeper zum einen von seiner Furchtlosigkeit im direkten Duell, aber auch von seiner Antizipationsfähigkeit. In Video-Zusammenstellungen im Netz seiner besten Paraden fällt auf, dass er trotz seiner schon immer etwas massigeren Statur blitzschnell hechtete und Bälle aus dem Eck holte. Timing war sein Schlüssel – und Erfahrung. „Du musst als Torwart nicht unbedingt die Reflexe einer Katze haben, aber die Geduld einer Schlange“, fasste er das zusammen. In 207 Ligaspielen für Everton blieb er beachtliche 62-mal ohne Gegentor. Nach siebzehn Jahren verließ er den Klub 1998 als jener Spieler mit den meisten Titeln. Die Queen hatte ihn zuvor zum Ritter geschlagen und gefragt: „Was machen Sie nun, nachdem Sie aufgehört haben?“ Southall aber spielte unentwegt weiter, tingelte durch die Spielklassen und gab im Alter von 41 Jahren tatsächlich noch einmal sein Comeback in der Premier League für Bradford City.
Southall machte 904 Profispiele, die meisten (702) zwischen 1981 und 1998 für den Everton FC. Er ist damit Rekordspieler der Toffees.
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Nach der Karriere versuchte er sich als Trainer und plante eigentlich, im großen Fußballzirkus zu bleiben, obwohl er ihn verachtete. Als Trainer der walisischen U17 meldete er den Schiedsrichtern und der UEFA, dass einer seiner Spieler rassistisch beleidigt worden war – eine Reaktion blieb aus. „Die Funktionäre nehmen Wales nicht ernst, sie reagieren nur, wenn es um die Großen geht. So ist es mittlerweile im Fußball: Wenn du kein Geld hast, haben sie dich bei den Eiern.“ Southall wandte sich vom großen Geschäft ab und fand seine Erfüllung in der Arbeit mit Jugendlichen, die die Schule schwänzten. Er brachte ihnen Mathematik bei, indem er mit ihnen Darts spielte, trieb mit ihnen Sport und vermittelte Praktika. Noch heute fährt er 900 Kilometer in der Woche, um lokalen Communitys zu helfen und Vorträge zu halten. In diesem Jahr erschien sein Buch „Mind games“, in dem er aufzeigen will, wie der Fußball bei psychischen Problemen helfen kann.
Doch das ist nur ein Thema von vielen. LGBT, Gleichberechtigung, Kampf gegen Rassismus und Populismus, Rechte von Sexarbeiterinnen, Hilfe für Schulabbrecher oder Drogensüchtige – der 62-Jährige wirkt fast wie eine Ein-Mann-NGO. Ist er also ein neuer Jeremy Corbyn, der einstige, aber dann gefallene Held der Labour Party? Southall schuftete auf dem Bau, bevor er bekannt wurde. Er verbrachte große Teile seines Lebens in der linken Stadt Liverpool. Er gilt daher in England als „Sozialist“, doch sein Engagement ist weniger von einer politischen Agenda als von seinem Altruismus getrieben. Er scheint Minderheiten und Abgestempelte auffangen zu wollen wie früher die Bälle in seinem Strafraum. Er will alle im Spiel halten. Wenn er nun anderen die großen Plattformen überlässt, dann ist das eine Fortführung seiner Profilaufbahn. Nach den Meisterschaften und Pokaltriumphen fasste Southall nur selten die Trophäen an. Er mochte es nicht, auf Siegerehrungen zu gehen: „Warum sollst du dich da mit dem Pokal zeigen? Du hast ihn doch eh schon gewonnen.“ So einfach ist und war es für Southall. Punkt. Und deswegen setzte er sich auch nach dem FA-Cup-Gewinn 1995 einfach ins Auto und fuhr nach Hause. Für ihn war es das Beste. You gotta do what you gotta do.
Dieser Text erschien erstmals im August 2021 in unserem 11FREUNDE SPEZIAL - Torhüter.