Sven Heitkamp
13-16 Minuten
Am frühen Mittwochmorgen herrscht Alarmstimmung vor dem Hochsicherheitsgebäude des Dresdner Oberlandesgerichts. Vor den hohen Zäunen mit Stacheldraht in der Albertstadt stehen rund 50 junge Leute aus der linken Szene, maskiert, die Köpfe unter Kapuzen. Um sie herum hat die Polizei bewaffnete Posten und Mannschaftswagen aufgestellt. Auf Plakaten steht: „Feuer und Flamme der Repression“ und „Free Lina“.
Die Leipziger Studentin Lina E. und drei junge Männer, die mit ihr vor Sachsens oberstem Gerichtshof angeklagt sind, sollen eine linksextremistische, kriminelle Vereinigung gegründet und in mindestens sechs Fällen brutale Übergriffe auf Rechtsextremisten in Sachsen und Thüringen verübt haben – mit teils lebensbedrohlichen Folgen für ihre Opfer. So sieht es der Generalbundesanwalt.
Mittlerweile ist Lina E. zu einer Art Symbolfigur der linksextremen Szene geworden. Ihr Name ist an Häuserwände nicht nur in Leipzig gesprüht, es gibt Demos und Spendenaktionen, bedruckte T-Shirts, Taschen und Socken. Der Prozess gilt als einer der bedeutendsten gegen linksautonome Gruppierungen in Deutschland seit vielen Jahren – zumal bei Straftaten der linken Szene die Aufklärungsquote äußerst gering ist.
50 Leute aus der linken Szene versammeln sich vor dem Gebäude. Auf Plakaten steht: „Feuer und Flamme der Repression“ und „Free Lina“.
Als Lina E. um kurz nach 10 Uhr von drei Justizwachtmeistern in den gut abgeschirmten Gerichtssaal geführt wird, brandet von ihren Unterstützern im Zuschauerbereich hinter Plexiglasscheiben Beifall auf – die Gerichtsordner lassen dies kurze Zeit zu. Lina E. trägt ein graues Oberteil, schwarze Hosen und schulterlange Locken. Das Gesicht hat sie hinter einer blauen Aktenmappe verborgen, bis die Fotografen und Kameraleute aus dem Saal geschickt werden. Dann lächelt sie und winkt von der Anklagebank den Besuchern zu.
Einsatzgruppen der Justiz wachen auf den Fluren
Zuschauer und Journalisten müssen, um überhaupt in das Gerichtsgebäude zu gelangen, akribische Personenkontrollen passieren, sogar ihre Schuhe durchleuchten lassen. Handys, Getränkeflaschen, Feuerzeuge sind nicht gestattet. Einsatzgruppen der Justiz wachen auf den Fluren. Das Prozessgebäude war 2017 errichtet worden, um den Prozess gegen die rechtsterroristische „Gruppe Freital“ zu führen, die unter anderem Sprengstoffanschläge auf Asylunterkünfte verübt hatte. Der alte Gerichtssitz am Elbufer hätte für die Sicherheitsanforderungen nicht ausgereicht.
Lina E. war am 5. November 2020 in ihrer Wohnung in Leipzig-Connewitz festgenommen und symbolträchtig mit dem Hubschrauber zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe abtransportiert worden. Seither sitzt sie in Untersuchungshaft in Chemnitz und bekommt massive Aufmerksamkeit diverser Medien und der linken Szene. Während Lina E. nicht vorbestraft ist, sind die mitangeklagten Lennart A., Jannis R. und Jonathan M. polizeibekannte Linksextremisten – aber auf freiem Fuß.
Im Linksextremismus ist eine neue Qualität der gewalttätigen Übergriffe zu beobachten.
Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz
Lina E. war nach ihrem Abitur 2013 aus Kassel nach Leipzig gezogen. Sie studierte in Halle Erziehungswissenschaften und schrieb ihre Bachelor-Arbeit über Neonazismus in der Jugendarbeit am Beispiel des NSU im Jugendclub Jena-Winzerla. Danach begann sie ein Masterstudium in Leipzig und habe bald in der Jugendhilfe arbeiten wollen – im Staatsdienst. Der Freundeskreis hat Lina E. als fröhliche Frau mit offener Ausstrahlung beschrieben. Und genauso wirkt sie auch, wenn sie nun im Gerichtssaal mit Anwälten oder Begleitern spricht.
Sie habe die Opfer ausgespäht, sich mit Perücken getarnt
Der Generalbundesanwalt, der das Verfahren führt, spricht eine andere Sprache: Die 26-jährige Studentin soll in der Vereinigung „eine herausgehobene Stellung“ gehabt haben: Sie habe gezielt Opfer ausgespäht, sich mit Perücken getarnt, ihr Auto als Fluchtfahrzeug zur Verfügung gestellt, gestohlene Autokennzeichen und gefälschte Ausweise benutzt und bei mehreren Übergriffen das Kommando geführt. Der Bundesanwalt spricht von einer straff organisierten, aber keiner streng hierarchischen Bande.
Spätestens im August 2018 habe sich Lina E. dieser Gruppe angeschlossen. Verbindend sei ihre „militante linksextremistische Ideologie“ gewesen. „Die Vereinigung hat versucht, ihre politischen Überzeugungen mit Gewalt durchzusetzen“, erklärt Bundesanwalt Bodo Vogler. „Indem sie ihre Gegner körperlich angreifen, tragen sie den Meinungskampf hinein in die Eskalation und rütteln an einem Grundpfeiler unseres demokratischen Rechtsstaates.“
Lina E. trägt ein graues Oberteil, schwarze Hosen und schulterlange Locken. Das Gesicht hat sie hinter einer blauen Aktenmappe verborgen
Die Anklage, die erst nach Wortgefechten und Anträgen der Verteidigung vorgetragen werden kann, wirft der „Gruppe E.“ unter anderem vor, die junge Frau habe zusammen mit drei anderen Tätern Anfang Oktober 2018 einen Rechtsextremisten in Leipzig-Gohlis überfallen. Sie hätten ihn am frühen Morgen vor seiner Wohnung abgepasst, auf ihn eingetreten und Pfefferspray eingesetzt. Er habe Verletzungen im Gesicht und einen Kniescheibenbruch erlitten. Im Januar 2019 sollen sie einen Handwerker in Leipzig-Connewitz verprügelt haben, der eine Mütze der Marke „Greifvogel Wear“ trug, die der rechtsextremen Szene zugeordnet. Der Mann erlitt Frakturen im Gesicht.
Sie sprühten Reizgas, schlugen auf die Insassen ein
Als exemplarisch steht ein nächtlicher Angriff am 19. Oktober 2019 auf das Eisenacher Lokal „Bull’s Eye“, das als Nazi-Treff galt. Lina E. und eine Gruppe von zehn bis 15 Angreifern hätten kurz nach Mitternacht den Inhaber und fünf seiner Gäste in der Kneipe mit Schlagstöcken, Reizgas, Pfefferspray und Faustschlägen traktiert, ihnen Verletzungen im Gesicht zugefügt, Scheiben und Mobiliar zertrümmert.
Acht Wochen später überfielen sie den jungen Kneipier, den Rechtsextremisten Leon R., laut der Anklage noch einmal. So hätten sie ihm nachts gegen 3.15 Uhr vor seiner Wohnung aufgelauert und maskiert mit Hammer, Stangen und Radschlüssel attackieren wollen, als er von Freunden zu Hause abgesetzt wurde.
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Lina E. habe Reizgas gesprüht, doch Leon R. habe die Angreifer mit Pfefferspray und einem Teppichmesser abwehren können. Danach schlugen Lina E. und ihre Bande auf das Auto der Freunde ein, zertrümmerten Scheiben, Spiegel und Türen, sprühten Reizgas, schlugen auf die Insassen ein und rasten schließlich mit zwei Autos in die Nacht davon.
Die Flucht vor der alarmierten Polizei muss eine Verfolgungsjagd durch Eisenach geworden sein – die Angreifer aus Leipzig wurden von mehreren Streifenwagen gejagt. Als sie noch vor der Autobahn A4 gestellt wurden, waren am silbernen Golf von Lina E.’s Mutter gestohlene Kennzeichen angebracht. Seit jener Nacht hatten die Ermittler eine Spur.
Von einem Anschlag wurde in letzter Minute abgelassen
Schon als Lina E. einen Tag zuvor zwei Hämmer in einem Baumarkt stehlen wollte, wurde sie von einem Ladendetektiv ertappt. Sie habe dem Mann vom Sicherheitsdienst noch einen Stoß in den Bauch versetzt und sei weggelaufen, sei nach kurzer Flucht aber gestellt worden.
Doch auch da waren die Angriffe nicht zu Ende. Am Abend des 15. Februar 2020 überfielen 15 bis 20 linke Schläger am östlich von Leipzig gelegenen Bahnhof Wurzen mit Sturmhauben, Schlagstöcken und Bierflaschen sechs Neonazis, die bei einem Gedenkmarsch zum 75. Jahrestag der Bombardierung Dresdens mitgelaufen waren.
Der Strafsenat unter dem Vorsitzenden Hans Schlüter-Staats hat mehr als 50 Prozesstage bis Ende März terminiert.
Anfang Juni 2020 habe Lina E. schließlich den Rechtsreferendar und Kampfsportler Brian E. aus dem rechtsextremen Umfeld tagelang oberserviert. Von einem Anschlag hätten sie nur in letzter Minute abgelassen, weil sie Schutzvorkehrungen der Polizei beobachtet hatten. Einen Monat später wurde Lina E. das erste Mal verhaftet, allerdings nach einigen Tagen noch einmal freigelassen. Seit Anfang November sitzt Lina E. endgültig in Untersuchungshaft.
Der Verlobte gilt seit einem Jahr als abgetaucht
Zu der Gruppe soll auch ihr Verlobter gehört haben: der vorbestrafte Johann G. Er wurde unter anderem wegen Landfriedensbruch und einer Schlägerei am Rande einer Legida-Demonstration verurteilt. Auf seine Finger, so heißt es, habe er acht Buchstaben tätowiert: „Hate Cops“. Seit einem Jahr gilt er als abgetaucht.
Auf der Liste der angeklagten Straftaten stehen auch gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch, räuberischer Diebstahl und Sachbeschädigung. Die Beweisführung gegen die Angeklagten dürfte allerdings langwierig werden. Der Strafsenat unter dem Vorsitzenden Hans Schlüter-Staats hat mehr als 50 Prozesstage bis Ende März terminiert. 48 Zeugen und drei Sachverständige sind bisher geladen.
Die Bundesanwaltschaft hat nicht genügend Beweise für die kriminelle Vereinigung.
Anwalt der Angeklagten
Drei der Opfer lassen sich im Prozess als Nebenkläger von Anwälten vertreten, die bereits in Prozessen gegen rechtsextreme Kreise aufgetreten waren. Unter ihnen ist der Anwalt und Pro-Chemnitz-Chef Martin Kohlmann. Ihm wurde am Vormittag vorgeworfen, trotz strengem Verbots Fotos im Gerichtssaal gemacht und über Bekannte bei Twitter gepostet zu haben.
Die Verteidiger von Lina E. und ihrer Mitangeklagten tragen am Mittag eine lange Erklärung vor – und bezweifeln die Anklage der Bundesanwälte massiv. Für den Generalbundesanwalt sei der Prozess offenkundig ein Experiment, wie weit die Bundesanwaltschaft mit dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung gehen könne. „Die Bundesanwaltschaft hat nicht genügend Beweise für die kriminelle Vereinigung“, sagt einer der Anwälte. Viele Vorwürfe würden sich keineswegs bestätigen lassen. Einige Wertungen der Ermittler seien „abenteuerlich“.
Die Antifa kündigte in Internetforen Rache an
Die Serie der Übergriffe hat – bis zum Beweis des Gegenteils – wohl auch etwas zu tun mit einem Angriff von Rechtsextremisten auf Connewitz: Am 11. Januar 2016 waren rund 250 gewaltbereite und vermummte Neonazis mit Eisenstangen, Steinen, Schlagstöcken, Feuerwerkskörpern und Holzlatten durch eine Hauptstraße des alternativen Stadtteils gezogen. Bei ihrem „Sturm auf Connewitz“ zerstörten sie Läden, Bars und Autos von alteingesessenen Leipzigern ebenso wie von arabischen Imbissbetreibern und legten Feuer. Die Polizei setzte in jener Nacht 215 Täter fest.
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Die Antifa kündigte seinerzeit in Internetforen Rache an: „Freut euch nicht zu sehr, ihr dreckigen Faschisten. Der feige Angriff wird auf euch zurückkommen!“ Im Dezember 2016 wurden die Namen und Fotos aller 215 Neonazis und rechten Hooligans auf einer Szene-Webseite gepostet. Die Serie der Übergriffe, die der Gruppe um Lina E. vorgeworfen werden, wird daher auch als Rachefeldzug für den „Sturm auf Connewitz“ gedeutet.
Die Kundgebung am Morgen vor dem Gericht hat das selbst ernannte „Solidaritätsbündnis Antifa Ost“ organisiert. Der Prozess sei „eindeutig politisch motiviert“, sagt eine Sprecherin. „Für uns steht fest, dass wir keinen fairen Prozess erwarten dürfen.“ Seit Monaten würden „rechts unterwanderte Sicherheitsbehörden“ versuchen, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit eine Vorverurteilung der Angeklagten zu erreichen.
Auch Lina E.’s Mutter, die den Prozess begleitet, lässt während der Kundgebung eine Botschaft verlesen. Sie stehe voll und ganz hinter ihrer Tochter: An Lina solle ein Exempel statuiert werden. Sie wünsche ihr viel Kraft und eine baldige Freilassung aus der Untersuchungshaft.
Ermittler und Beobachter konstatieren seit längem eine Militarisierung der linksradikalen Szene. „Im Linksextremismus ist eine neue Qualität der gewalttätigen Übergriffe zu beobachten“, sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, vor dem Prozess dem „Spiegel“. „Es sind mehrere klandestine Kleingruppen entstanden, die sich vom Rest der Szene abschotten und gezielt ihre politischen Gegner angreifen.“ Hemmschwellen seien gefallen, teilweise werde der Tod von Opfern billigend in Kauf genommen.
Zurzeit mobilisiert ein Bündnis unter dem Namen „Wir sind alle linx“ für den 18. September zu einer Großdemonstration in Leipzig. Am Tag der Urteilsverkündung im Prozess um Lina E., so wird schon jetzt befürchtet, könnte es wieder Ausschreitungen in Connewitz geben – je nachdem, wie das Dresdner Urteil ausfällt.
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https://taz.de/Lina-E-vor-Gericht/!5794248&s=Lina+e/