„Sie trinken aus Angst. Aber das hilft nicht“
Gesellschaft — Original 14.02.2023 von Redaktion The New Tab — Übersetzung (gekürzt) 16.03.2023 von Ruth Altenhofer , Jennie Seitz
Alle Männer zwischen 18 und 27 sind in Russland per Gesetz zum Wehrdienst verpflichtet. Dienstdauer: ein Jahr. Seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine beteuert die russische Führung stets, dass pflichtdienstleistende Soldaten (russ. Srotschniki) nicht an der sogenannten „Spezialoperation“ teilnehmen – entgegen zahlreichen Hinweisen in unabhängigen Medien zu dem Thema. Nur „professionelle Militärs lösen die gestellten Aufgaben“, so Putin wenige Tage nach dem Beginn der Aggression. Damit meinte Putin die sogenannten Kontraktniki – also Berufssoldaten der regulären Streitkräfte. Mit der sogenannten Teilmobilmachung kamen auch Mobilisierte an die Front. Dazu werden sowohl Söldner gezählt als auch Soldaten, die vom Verteidigungsministerium rekrutiert werden. Manche von ihnen ziehen aus Überzeugung in den Krieg, andere werden dazu faktisch gezwungen. Schließlich gibt es auch Mobilisierte, die wohl von Aussichten auf umgerechnet etwa 2500 Euro pro Monat angetrieben werden – ein Vielfaches des offiziellen Medianeinkommens in Russland.
Vielerorts besteht die russische Militärtaktik aus Wellen von Frontalangriffen mit immensen personellen Verlusten. Einige der Mobilisierten dürften das wohl ahnen, wenn sie in den Krieg ziehen. Auf ihrem Weg dorthin kommen sie an Zwischenstationen, Mobilisierte aus dem Ural und Sibirien etwa auch nach Jelanski – eine Militärsiedlung in der Oblast Swerdlowsk. Hier treffen sie aufeinander und auch auf Srotschniki und Berufssoldaten. Es entsteht ein eigentümliches Soziotop, das von Angst geprägt ist, von Verzweiflung und einer gewissen Abgestumpftheit. Diese Eindrücke liefern Journalistinnen von The New Tab, die sich in Jelanski umgesehen haben.
Das Alkoholproblem hat solche Ausmaße angenommen, dass man ein Verbot verhängte
Schon im Oktober 2022 hatte das Alkoholproblem unter den trinkenden Mobilisierten solche Ausmaße angenommen, dass man schlichtweg ein Verbot verhängte. „Die Situation mit der Trinkerei hat sich dann gebessert, die Disziplin zugenommen. Nach unserem Eingreifen hat eines der beiden Geschäfte den Verkauf von Alkohol komplett eingestellt, das andere hat die Verkaufszeit auf zwei Stunden pro Tag begrenzt“, berichtete der Duma-Abgeordnete Maxim Iwanow Anfang Oktober auf VKontakte.
Als wir von dem Alkoholverbot in der Siedlung gelesen hatten, steuerten wir den hiesigen Schnapsladen an – in der Erwartung, dass er geschlossen wäre. Aber der Laden ist offen und läuft ganz normal. Die Regale sind gefüllt mit Wodka, Bier und Wein.
Ein Kunde drängelt sich wankend an uns vorbei zum Regal. Er trägt eine schmutzige Uniform, die Mütze sitzt schief, er riecht streng nach ungewaschenem Körper und Alkohol. Der Mann nimmt mit zittrigen Händen Wodkaflaschen aus dem Regal. Eine. Zwei. Drei. Trägt die weißen Glasflaschen zur Kasse. Bezahlt und packt sie vorsichtig in den Armeerucksack.
„Und eine Schachtel Camel“, lallt er heiser.
Ich gehe zu dem Verkäufer:
„Mir wurde gesagt, dass hier kein Alkohol verkauft wird …“
„Ja, so war das vor den Neujahrsfeiertagen. Die Kommandantur hat unseren Chef angerufen, sie haben sogar unsere Kassen für drei Monate gesperrt, aber dann wurde der Laden geöffnet und seitdem nicht wieder zugemacht“, sagt er. „Wir dürfen per Gesetz den Verkauf nicht verweigern, und die Mobilisierten saufen wie die Schweine. Sie können nicht mehr geradeaus laufen, randalieren die ganze Zeit, schlagen alles kurz und klein. Ich würde sagen, es ist nicht ungefährlich hier. Die Berufssoldaten und die einfachen Jungs verhalten sich im Gegensatz zu den Mobilisierten ruhig.“
„Warum trinken die denn so viel?“
„Weiß nicht. Vielleicht steigt ihnen das Geld zu Kopf – sie bekommen je 200.000 Rubel [rund 2500 Euro – dek]. Der vor euch hat gerade drei Flaschen gekauft und ist jetzt schon hackedicht.“
„Wie unterscheiden Sie sie von den Berufssoldaten?“
„Das ist leicht“, erklärt der Verkäufer, „sie sehen schmutzig aus: Die können nur einmal die Woche in die Banja. Als sie hier ankamen, war das wie im Saustall. Die lagen hier überall in ihrer eigenen Kotze rum. Das ist die bittere Wahrheit. Die Jungs kommen hier zu mir rein und erzählen mir, dass sich jemand mit dem Messer verletzt hat oder an seiner Kotze erstickt ist.“
Vor einem der Gebäude kratzt ein Hausmeister mit einer Schaufel die festgefrorene Schneeschicht ab. Daneben rutschen Kinder auf Plastikschalen vereiste Stufen runter, stoßen die Vorbeilaufenden fast um, die sich auch so kaum auf den Beinen halten können. Der Schnee ist voller Kippen und Rotzspuren.
„Da, siehst du“, der Hausmeister deutet auf eine Gruppe wankender Soldaten. „Überall laufen hier die besoffenen Mobilisierten herum. Man erkennt sie gleich, sie sehen anders aus. Hier waren sehr viele von denen, 7500 – aus Perm, Tscheljabinsk, ChMAO [Autonomer Kreis der Chanten und Mansen – dek], aus den umliegenden Dörfern. Jetzt sind es weniger.“
https://www.dekoder.org/de/article/ukra ... koholismus
Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.
(Oscar Wilde)
Weil das Denken so schwierig ist, urteilt man lieber.
(Sandor Márai)
Gruß
erpie