Ich möchte wetten das in der EU geschweige denn in der BRD die in ähnlichen Positionen befindlichen Personen gar keine Ahnung haben von dem was Sie sagt!
Da Bezahlschranke
„Ich garantiere Breitband, selbst auf 4000 Metern“
Digitale Demokratie? In Taiwan selbstverständlich, sagt Ministerin Audrey Tang, für die schnelles Netz ein Menschenrecht ist. Über das Nichtbinärsein, Transparenz und Tuvalu
Von Interview: Cornelius Dieckmann und Jan Oberländer
AUDREY TANG, 40,ist Softwareprogrammiererin, ehemalige Unternehmerin und Digitalministerin von Taiwan. Als Achtjährige begann sie, sich selbst das Coden beizubringen. Mit ihren Eltern, beide Journalisten, lebte sie auch eine Zeit lang in Deutschland. Nachdem sie mit 14 die Schule abbrach, gründete sie mehrere Tech-Firmen und arbeitete als freie Beraterin für Apple, wo sie an der Sprachsteuerung Siri beteiligt war. 2005 outete Tang sich online als trans, heute spricht sie von sich als nicht-binär und „post-gender“ – es sei ihr egal, mit welchem Pronomen man sie anrede. Später engagierte sie sich in Taiwans Peking-kritischer Sonnenblumen-Bewegung, bevor sie 2016 ins Kabinett berufen wurde. Während des Videocalls sitzt Tang, die offiziell „Ministerin ohne Geschäftsbereich“ ist und schon vor der Pandemie viel im Homeoffice arbeitete, in ihrer Wohnung in Taipeh. Im Hintergrund ein fast leerer Raum, eine Zimmerpflanze als Türstopper. Bücherregale habe sie nicht, „ich lese nur noch E-Books“. Anfangs sieht man sie nur stumm den Mund bewegen, ihr Mikro ist aus. Genau das sei es, was sie während der Coronazeit am meisten frustriere: Tonprobleme. „Wenn jemand viel Echo hat, viel ,Piiiep‘, können wir schon nach fünf Minuten keine Empathie mehr aufbringen.“ Am Ende des Gesprächs spreizt Tang die Finger zum Star-Trek-Handzeichen. „Das ist meine Abmeldegeste. Sie scheint mir in Pandemiezeiten ein sehr guter Gruß. Er bedeutet: Live long and prosper!“ Übersetzt: Lebe lang und in Frieden.
Ministerin Tang, Sie haben für dieses Interview die Bedingung gestellt, dass wir nicht das Videokonferenz-Programm Zoom verwenden. Warum?
Wir erlauben die Installation dieser Software momentan nicht auf Rechnern des öffentlichen Sektors. Webbasierte Zoom-Gespräche sind noch immer nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt. Außerdem wissen wir, dass Konten von Leuten gesperrt wurden, die über die Vorfälle von 1989 auf dem Tiananmen-Platz gesprochen hatten – selbst wenn es keine chinesischen Konten waren. Der US-Justizminister hat sogar Anklage erhoben, weil bei Zoom jemand direkt an die Regierung der Volksrepublik berichtete. Das ist ein Management-Problem, kein technisches.
Sie wurden 2016 mit 35 Jahren Digitalministerin von Taiwan. Was war Ihre erste Amtshandlung?
Die allererste war, den Computer in meinem Büro einzuschalten und festzustellen, dass Windows darauf lief. Ich bat um einen Linux-Arbeitsbereich und merkte, dass auch auf diesen Rechnern ein ziemlich altes Betriebssystem installiert war. Dann habe ich den Kernel neu kompiliert ...
... also den zentralen Bestandteil des Betriebssystems. Sie haben das selbst programmiert?
Klar. Erst so konnte Linux sicher laufen. Und ich konnte Tech-Tools einbringen, die ich für meine Arbeit brauchte, zum Beispiel EtherCalc, ein Programm, in dem man gemeinsam Tabellenrechnungen durchführen kann. Jetzt läuft unser System, in dem wir auch mit anderen Behörden zusammenarbeiten, komplett mit Open-Source-Software. Das hat symbolischen Wert, aber auch praktischen: Wir sparen eine Menge Lizenzgebühren.
Kommen Sie heute noch viel zum Programmieren?
Oh ja. Normalerweise erstelle ich Prototypen der Dienste, die ich implementiert sehen will, selbst. Dann übernehmen Tech-Anbieter. Es ist einfacher für mich, etwas in Code zu veranschaulichen.
Sie sagten mal, Sie würden in JavaScript träumen. War das ernst gemeint?
Manchmal auch in Perl. Ja, ich träume in Code.
Bevor Sie Ministerin wurden, gründeten Sie mehrere Firmen und arbeiteten für Apple an der Sprachsteuerung Siri. Mit 33 Jahren hatten Sie genug Geld verdient, um in den Ruhestand zu gehen und nur noch zu tun, worauf Sie Lust hatten. Was dachten Sie, als Ihnen kurz darauf der damalige Premier Lin Chuan einen Kabinettsposten anbot?
Ich fragte meine Freunde, ob sie das machen wollten, aber die hatten keine Zeit. Und dann habe ich drei Bedingungen ausgehandelt. Erstens: Telearbeit. Ich bestimme, wo ich arbeite. Zweitens: die „freiwillige Assoziation“, das heißt, dass ich keine Befehle erteile oder entgegennehme. Ich arbeite mit den Menschen und mit der Regierung, aber nicht für sie. Und drittens: radikale Transparenz.
Sie veröffentlichen alles, was Sie tun: Ihre Meetings, Ihre Interviews – auch dieses transkribieren Sie und stellen es online.
Radikale Transparenz heißt nicht extreme Transparenz, sondern Transparenz als Standard. Das Transkript kann vor der Veröffentlichung auf der Website des Ministeriums von allen Gesprächsbeteiligten bearbeitet werden. Wenn Sie einen Witz gemacht haben, der aus dem Zusammenhang gerissen werden könnte, können Sie einschreiten. Tun Sie zehn Arbeitstage lang nichts, wird alles publiziert. Das ist pädagogisch. Ich will, dass die Menschen sehen, wie Politik gemacht wird.
Sind Ihre Kabinettskolleg:innen manchmal genervt von diesem Prinzip?
Das glaube ich nicht. Ich fordere ja nicht, dass alle Raketenbasen und U-Boote ihre Koordinaten auf Open-Data-Websites veröffentlichen. Natürlich gibt es auch einen nicht öffentlichen Teil der Politik, wenn es etwa um Diplomatie geht.
Sie betonen oft, Ihr Ansatz sei das Gegenteil der Politik der Volksrepublik China, die Herrschaftsanspruch auf Taiwan erhebt. Sie sagen, China mache nicht den Staat, sondern die Bürger transparent ...
... transparent für den Staat, richtig. Wenn eine Notsituation entsteht und die journalistische, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit beschnitten werden, schadet das der Fähigkeit des Staates, neue Lagen zu erkennen. Indem wir den Staat für die Bürger durchschaubar machen, können wir innovativ sein. Dr. Li Wenliang zum Beispiel ...
... der chinesische Arzt, der als einer der Ersten vor dem Coronavirus warnte und später an Covid-19 starb. Ihm wurde von Chinas Behörden „Verbreitung von Gerüchten“ vorgeworfen.
Er hat Anfang 2020 mit seiner Warnung das taiwanesische Volk gerettet. Aber er war nicht in der Lage, die Menschen in Wuhan zu retten. Genau aus diesem Grund.
Wenn die deutsche Digitalstaatsministerin Dorothee Bär Sie morgen anriefe mit der Frage, was westliche Länder von Taiwan lernen können, was würden Sie antworten?
Umfassender Breitbandzugang. Ohne ihn wird jede Bemühung um digitale Demokratie Menschen ausschließen – und damit illegitim sein.
Wie wollen Sie das erreichen?
Für 15 Euro im Monat bekommt man in Taiwan eine unbegrenzte 4G-Verbindung oder einen Kabelanschluss. Wir garantieren Breitband überall, selbst auf 4000 Metern Höhe. Vor ein paar Monaten schrieb mir ein Bürger, der sich in der Nähe des Yang-Ming-Berges in Quarantäne befand: „Um diese E-Mail zu senden, habe ich einen halben Nachmittag gebraucht! Ich kann keine Filme streamen. Ministerin, Sie haben gesagt, Breitband sei ein Menschenrecht. Meine Menschenrechte werden verletzt!“ Zwei Wochen später stand dort ein neuer Telekom-Mast.
Sie sind 1981 geboren. Wie viele Hacker Ihrer Generation wuchsen Sie mit der Vision eines freien Internets auf. Ist dieser Traum geplatzt?
Ganz und gar nicht. Sie können auch heute, ohne vorher jemanden um Erlaubnis zu fragen, ein Informationsprotokoll erfinden, das Sie mit jedem beliebigen Menschen verbindet, der demselben Protokoll folgt. Das ist das Versprechen des Internets. Nicht mehr und nicht weniger. Selbst China spaltet sich nicht ab, es ist immer noch mit weltweit erreichbaren Seiten verbunden. Aber es stimmt schon, wir sehen heute viel deutlicher das Potenzial antisozialer sozialer Medien.
Ist Facebook ein antisoziales soziales Medium?
Nicht, wie ich es benutze: als Webbrowser. Ich suche Namen oder Hashtags, sehe mir Videos an. Aber ich habe einen Eradicator installiert, eine Art Tintenkiller, darum habe ich keinen Feed, in dem eine KI versucht, meine Emotionen vorherzusagen. Facebook ist groß. Es hat süchtig machende Teile, und es hat nicht so süchtig machende Teile.
Es ist kein Verstärker der Demokratie.
Nein, es ist keine demokratische Institution. In einem suchtbildenden Teil ein Bürgergespräch führen zu wollen, wäre so, als würde man ein physisches Bürgergespräch in einem Nachtclub abhalten, in dem man schreien muss, um gehört zu werden. Drinks, Türsteher, ein verrauchter Raum. Ich sage nicht, dass Clubs antisozial sind. Wir sollten nur unsere Bürgergespräche nicht dort abhalten.
Taiwan war bis 1987 eine Militärdiktatur. Sprachen Ihre Eltern, die Journalisten waren, mit Ihnen über die Grenzen der politischen Freiheiten?
Sie brachten mir nie Politik per se bei, aber wir debattierten. Mein Vater war sehr stolz auf seine sokratische Methode. Immer wenn ich eine Meinung vortrug, die ich für gut begründet hielt, zeigte er mir implizite Widersprüche auf. Ich weiß noch, als die DPP gegründet wurde, damals einigermaßen illegal ...
... die Demokratische Fortschrittspartei, die 1986 erste Oppositionspartei wurde und heute unter der Führung von Präsidentin Tsai Ing-wen regiert.
Ich war fünf oder sechs, und meine Eltern sprachen mit mir darüber, dass „Fortschritt“ äußerst unterschiedliche Bedeutungen haben kann. In Taiwan bedeutete „Fortschritt“ lange wirtschaftliche Entwicklung – aber für den Umweltschutz war es das Gegenteil. Meine Eltern brachten mir bei, dass demokratischer Fortschritt keiner ist, wenn nur eine Kultur davon profitiert.
Sie programmieren, seit Sie acht sind – zunächst mit Kuli und Papier.
Faktencheck! Es waren Bleistift und Papier, haha. Wir hatten keinen PC in der Wohnung, ich lernte komplett aus dem Buch. Ich gab mit dem Bleistift CLS-Befehle ein und benutzte dann einen Radiergummi, um den „Bildschirm“ zu löschen.
Edward Snowden sagt, sein erster Hack sei seine Schlafenszeit gewesen. Mit sechs stellte er die Uhren in seinem Elternhaus um, damit er länger aufbleiben durfte. Was war Ihr erster Hack?
Das Schulsystem. Ich habe alles ausprobiert, von zivilem Ungehorsam bis Lobbyarbeit, um die Art von Bildung zu bekommen, die ich brauchte. Mit 14 erzählte ich meiner Schulleiterin von meinem „Forschungsprogramm“: Ich befasste mich mit der Frage, warum Menschen einander online so schnell vertrauen – und das Vertrauen auch schnell wieder verlieren, viel schneller als von Angesicht zu Angesicht. Ich war damals über das Web mit Leuten von der Cornell University in den USA in Kontakt. Sie wussten nicht, dass ich erst 14 war, sie behandelten mich einfach als Co-Forscherin und teilten ihre Erkenntnisse mit mir.
Wie reagierte Ihre Schulleiterin?
Sie sagte: „Okay, ab morgen musst du nicht mehr kommen. Mach einfach jeden Tag 16 Stunden Forschung.“ Ich fragte: „Und die Schulpflicht?“ Sie sagte: „Darum kümmere ich mich schon für dich.“
Ihre Bildungskarriere war auch sonst ungewöhnlich. Sie wechselten häufig die Schule. Weil Ihr Vater einem Promotionsprojekt in Deutschland nachging, verbrachten Sie ein Jahr in Saarbrücken.
Ich besuchte drei Kindergärten, sechs Grundschulen und ein Jahr lang die Mittelschule, bevor ich abbrach. Zehn Schulen in zehn Jahren. Als ich für die vierte Klasse registriert war, besuchte ich tatsächlich die sechste Klasse. Als ich offiziell in der fünften Klasse war, ging ich in die vierte – aber in Deutschland. Noch heute kann ich auf Deutsch, was wir in der Albert-Schweitzer-Schule in Saarbrücken-Dudweiler immer vor dem Unterricht sagen mussten: „Vater unser im Himmel ...“
Und bei all diesen Umzügen war das Internet Ihr eigentliches Zuhause?
Definitiv. Im Netz gibt es keine Randgruppen, egal wie nischenhaft deine Interessen sind. Selbst wenn nur eine Person von 10 000 sie teilt – in Taiwan wären das immerhin 2000 Leute.
Sie haben sich 2005 in einem Blogeintrag als trans geoutet. Wieso auf diesem Weg?
Ich habe zwei Pubertäten durchgemacht. Die Internet-Community hat mich in beiden unterstützt. Ich bin nicht-binär, das heißt, ich glaube nicht, dass mir die eine Hälfte der Bevölkerung ähnlich ist und die andere Hälfte nicht. In der Welt der Computersprachen gibt es viele Leute, die trans, nicht-binär oder gender-nonconforming sind. Das ist gar nicht so selten. Und nicht so selten zu sein, ist ziemlich wichtig, wenn man eine neue Erfahrung macht.
Ihre Weltregion ist weniger harmonisch. China hat in den vergangenen drei Jahren die Demokratie in Hongkong demontiert. Sind Sie besorgt, dass Taiwan jetzt ganz oben auf Chinas Liste ist und ein Krieg bevorsteht?
Demontage ist eine gute Beschreibung für Hongkong. Aber ich habe die Hoffnung auf ein zivilgesellschaftliches Bündnis zwischen demokratisch gesinnten Hongkonger:innen und Demokrat:innen in anderen Ländern noch nicht verloren.
Und was Taiwan betrifft ...
... ist es nicht so, als würden wir die Einmischung Chinas nicht wahrnehmen. Im Gegenteil, 2014 sind bei der Sonnenblumen-Bewegung viele Taiwanes:innen auf die Straße gegangen, weil sie den Einfluss des Pekinger Regimes in Taiwan sahen, durch Cyber-Angriffe, durch Desinformation, durch Propaganda.
Einen militärischen Angriff fürchten Sie nicht?
Da der Verteidigungsminister noch nie jemanden in mein Büro geschickt hat, glaube ich nicht, dass ich mehr darüber weiß als Sie. Ich nehme schlicht nicht an Gesprächen über Verteidigung teil. Das ist ganz natürlich, denn wie gesagt: Alles, was ich sehe, unterliegt dem Freedom of Information Act. Also werde ich selbstverständlich nicht zu Treffen eingeladen, in denen es um Annexion geht.
Auf staatlicher Ebene ist Taiwan isoliert. Es wird nur von 15 Ländern anerkannt: den Marshallinseln, Guatemala, Tuvalu ... Wie gehen Sie damit um?
Indem ich den Domain-Namen digitalminister.tw registriert habe. Selbst wenn Sie in Schanghai oder in Hongkong „.tw“ eingeben, gelangen Sie zu unseren Maschinen. In der Internet-Governance ist .tw anerkannt, wenn auch nicht Taiwan. Bei einem UN-Forum 2017 trat ich als Telepräsenz-Roboter auf. Ich sprach als digitalminister.tw, die Leute aus China sprachen ebenfalls. Wir waren beide im Protokoll, und es gab kein Problem. Was Tuvalu angeht: Das sind buchstäblich unsere Nachbarn: „.tv“.
Ministerin Tang, wenn Sie sich in ein beliebiges System der Welt einhacken könnten, mit der Garantie, dass niemand je davon erfährt – welches wäre das?
Das Sonnensystem. Die Sonne ein bisschen runterdrehen, den Klimawandel lösen. Und dann? Gibt es viele weitere Optionen.